Hilfe! Mein Mann stirbt!

Ein Einsatz zum Schichtwechsel

Ich habe mich ganz leise in das Notarztdienstzimmer und dort an meinen Spind geschlichen, um den Kollegen der vorangegangenen 24-Stunden-Schicht nicht aufzuwecken. Der hat sich im Bettzeug vergraben und unterbricht seine tiefen Atemzüge, trotz meiner Aktivitäten, nicht im Geringsten.
Ich gleite in die neongelbe Rettungshose, die dem Hochsichtbarkeitsmerkmal der Arbeitsschutzvorgaben gerecht wird. Noch vor wenigen Jahren sind wir Notärzte in der weißen Arbeitskleidung ausgerückt, die wir auch in der Klinik an hatten. Viele andere Kollegen sind immer noch nicht entsprechend gut ausgerüstet unterwegs.
Dann schlüpfe ich in die S3-Sicherheitsstiefel, während ich den Gürtel festzurre und die Schnalle arretiere.
In diesem Moment geht das Alarmlicht an der Wand an und etwas zeitversetzt schrillt schon der Alarm des Funktelefons in der Ladestation auf dem Schreibtisch neben dem Bett.
Der Kollege wird aus seinem Tiefschlaf gerissen und richtet sich mit einem tiefen Atemzug blinzelnd im Bett auf. Ich sehe seinem Gesichtsausdruck an, wie er innerlich versucht, seine schlaftriefenden Gedanken und einströmenden Sinneswahrnehmungen zu einem orientierten Zustand zusammenzupuzzeln. Anscheinend konnte er diese Nacht wieder nicht viel schlafen, war vielleicht sogar bei der ein oder anderen Reanimation.
Noch bevor mein Anblick sein Bewusstsein erreicht, sage ich: “Ich bin schon da, schlaf weiter!” Es erheitert mich, wie diese Worte scheinbar ohne größere Großhirnaktivität beim Kollegen ein angedeutetes Lächeln und die Antwort: “Sehr gut, danke dir”, erzeugen und er sich wieder auf das Kissen sinken lässt.

Bewusstlos zu Hause

Ich greife mir das Alarmtelefon, stecke es ein und gehe zügig Richtung NEF-Garage. Ich sehe Andreas, einen meiner Lieblingskollegen der Berufsfeuerwehr den Notarztwagen aus der Garage fahren. Ich steige ein und wir begrüßen uns kurz, aber herzlich.
“Eine bewusstlose Person”, sagt er.
Ich schnalle mich an, während Andreas nacheinander das Blaulicht einschaltet, am Navi auf “Los” tippt und Gas gibt.
Wir quälen uns durch den zu dieser Zeit dichten Berufsverkehr, zum Glück ist der Einsatzort nicht weit.
Der RTW einer privaten Rettungsdienstorganisation steht vor der Tür eines Altbaus, die Warnblinker leuchten rhythmisch auf.
Wir steigen aus, holen die Rucksäcke aus dem Kofferraum und treten durch das angelehnte Tor zum Wohngebäude. Die RTW-Besatzung hat offensichtlich vorausblickend mit dem Fußabstreifer das Zufallen der Eingangstür blockiert, so dass wir ohne Weiteres ins Treppenhaus gelangen.
Wir müssen schwer bepackt in den dritten Stock, eine breite Treppe mit Zwischenpodesten aus dem vorigen Jahrhundert führt uns hinauf, die alten Holzstufen federn knarrend unter unseren schweren Schritten. Dann stehen wir oben und sehen uns um. Keine der drei Türen dieses Stockwerks ist offen. “Charlotte Norden” lese ich als Mitteilerin auf dem Alarmfax auf meinem Klemmbrett, also suchen wir die wenigen Klingelschilder ab. Andreas wird vor mir fündig und läutet. Ich trete hinter ihn.

Herzlich unwillkommene Hilfe

Erstmal passiert nichts, ich vernehme gedämpfte Stimmen und Musik hinter der Tür. Es verstreicht so viel Zeit, dass Andreas gerade wieder die Hand zum Klingeln hebt, als eine aufgeregte Stimme lauter wird und sich der Tür nähert. Die Tür fliegt auf.
“Sind Sie der Notarzt? Na endlich, kommen Sie schnell, mein Mann!”
Eine Dame, die ich auf Ende 60 Jahre schätze, nimmt sofort Andreas in Beschlag. Ihre blondierten Haare sind hochgesteckt, die vor Aufregung verzerrten Lippen eine ordentliche Spur zu voluminös.
“Mein Mann ist Allergiker!” Die Frau hyperventiliert und legt nervös die Hände auf ihre Wangen. “Hier oben!”, tönt es aus dem oberen Stock der Maisonette-Wohnung. Andreas tritt an der Dame vorbei in den Flur und die enge Treppe in der Wohnung hinauf, was sie sichtlich irritiert.
“Er ist der Notarzt”, erklärt er nur kurz im Vorbeigehen, als er mit dem Daumen über seinen Rücken auf mich weist.
Ich werde genau und kritisch gemustert, währenddessen dringt aus einem Fernseher sehr laut der Dialog “Sie schickt der Himmel! – Na so gut ist meine Beziehung zu da oben auch wieder nicht”, zu uns.
Frau Norden tritt mir in den Weg. “Oh mein Gott, endlich ist ein Arzt da, bitte, mein Mann ist Allergiker.” “Wo ist Ihr Mann?” “Er hat gesagt, es geht ihm nicht gut, er geht hoch und legt sich hin.” Ich versuche, mich an der Dame vorbei zu drücken, um zu Andreas aufzuschließen, denn es ist vordringlich, den Patienten so schnell wie möglich zu sehen, um dessen Zustand einzuschätzen. Frau Norden hält mich mit einer Hand am Ärmel fest und mit der anderen eine Visitenkarte vor die Nase. “Professor Mair ist sein Hausarzt, Sie sollten mit ihm telefonieren!”
Andreas erscheint gehetzt am oberen Treppenabsatz und ruft mir im wieder Umdrehen zu: “Pulslos!”
Ich löse die Hand der Frau von meinem Ärmel, was mir von ihr ein halb empörtes Schürzen der wulstigen Lippen einbringt und eile an ihr vorbei und die Stufen hinauf. “Darf ich rüberkommen? Ich finde, Sie sollten bei uns Tee trinken”, sagt jemand im Fernseher. “Um Himmels Willen, wie schrecklich!”, sagt Frau Norden und wuselt mir hinterher.

Die Lage ist genauso ernst wie eng

Als ich das Schlafzimmer betrete, sehe ich, wie die RTW-Besatzung, die ich als Matthias und Caro erkenne, zusammen mit Andreas versuchen, den leblosen Körper Herrn Nordens zu fassen zu bekommen. Dieser war offenbar aus dem Bett zwischen die gegenüberliegende Wand und das Bett gefallen. Das massive Doppelbett füllt fast das ganze Zimmer aus, der Kopfbereich steht der Wand rechts an, am Fußende des Bettes lässt ein großer Kleiderschrank nur einen schmalen Weg nach gegenüber frei. Mir ist sofort klar, was auch die anderen schon erkannt haben, dass für eine Reanimation im Schlafzimmer nicht genügend Platz ist, wir müssen in den Flur vor der Treppe. Ich beginne damit, die Koffer und unsere sonstige Ausrüstung aus dem Weg zu schaffen.
Frau Norden nimmt den Weg ins Schlafzimmer. “Was machen Sie mit meinem Mann? Was ist mit ihm? Lassen Sie ihn doch! Der Arzt hat ihn ja noch nicht mal untersucht!”
“Das ist schon richtig so, Frau Norden”, beeile ich mich zu sagen. Ich schiebe mich an ihr vorbei und fasse mit an.
“Wir müssen ihn schnell nach draußen tragen, bitte machen Sie den Weg frei!”
Doch Frau Norden ignoriert mich. “Was hat er denn? Toni?”
Wir ächzen unter der Last des schlaffen, adipösen Körpers und kommen nicht weiter. Die Dame steht uns im Weg und versucht, dem Bewusstlosen ins Gesicht zu schauen. Das Gesicht, sehe ich jetzt auch, der Hals und das Marken-Poloshirt sind nass. Caro bemerkt meinen Blick. “Sie hat ihm Wasser ins Gesicht gegossen.”, sagt sie betont stoisch.
“Machen Sie jetzt bitte Platz!” sagt Matthias mit Nachdruck, während wir Frau Norden behutsam mit unserer Last in den Armen vor uns her und aus dem Zimmer schieben.
“Wissen Sie überhaupt, was Sie tun? Ich habe nicht den Eindruck! Er hat viele Allergien!”

Nicht jeder Imker hat eine Allergie

Als wir unseren Patienten abgelegen, beginne ich sofort mit der Herzdruckmassage. Caro zieht sich die Sauerstoffflasche heran und sucht die Beatmungsmaske aus dem Koffer. Matthias zerschneidet das nasse Polohemd und klebt die Defi-Elektroden um meine Arme herum auf den Brustkorb des Patienten. Andreas kümmert sich um den venösen Zugang und die Infusion.
Frau Norden stellt sich neben mich. Ich frage mich, ob ihr die Situation klar ist. Sie beugt sich herunter, fasst dem Patienten ins Gesicht.
“Toni, was ist mir dir? Rede mit mir!” Herr Norden tut ihr den Gefallen nicht.
“Herr Doktor, haben Sie nicht etwas gegen eine Allergie? Mein Mann ist doch so schwer allergisch, er musste sogar deswegen sein so sehr geliebtes Imkerhobby aufgeben.”
Während ich mit den Thoraxkompressionen fortfahre, überlege ich mir eine einfühlsame Antwort.
“Schauen Sie…”, beginne ich und werde unterbrochen.
“Doc!”, ruft Matthias.
Ich erkenne an seinem vielsagenden Blick, dass wir schon seit einigen Augenblicken bereit für eine Rhythmusanalyse sind, die ich durch mein Drücken verhindere.
“Moment, Frau Norden”, sage ich.
“Der Zugang liegt.”, meldet Andreas.
“Rhythmusanalyse läuft”, sagt das LP 15 und wenig später “Schock empfohlen”, Herr Norden hat nämlich Kammerflimmern.
Ich weiß, was folgt und stehe auf, nehme Frau Norden bei den Schultern und gehe mit ihr zusammen einen Schritt zurück. Matthias übernimmt von der anderen Seite die Thoraxkompression, während der Defi sich auflädt.
“Wollen Sie nicht…”, sagt die Dame in meinen Armen, als der Schock abgegeben wird und ihr Mann kurz mit allen Muskeln zuckt.
“Oh Gott!”, schluchzt sie.
Ich lasse die Frau los und beginne sofort wieder mit der Thoraxkompression.
“Was war das jetzt? Um Himmels Willen! Was ist mit ihm?”
“Hast du schon Adrenalin aufgezogen, Andreas?”, frage ich. Er nickt mir zu.
“Gib bitte 1mg Supra. Wir brauchen auch Cordarex.”
“1mg Supra ist drin!”, antwortet er. “Cordarex 300? Ziehe ich auf.”
“Ich bereite die Intubation vor, Doc, ok?”, sagt Matthias. “Ja.”, antworte ich.
Caro hat den Beatmungsbeutel auf den Mund und die große, schiefe Nase des Patienten gesetzt. Sie wendet sich an Frau Norden. “Ihr Mann hat einen Herzstillstand. Wir machen eine Wiederbelebung. Das eben…”
“Caro, bitte beatmen.”, unterbreche ich sie, da ihr entgangen ist, dass ich die letzten fünf Kompressionen auf 30 laut fertig gezählt habe.
Caro beatmet zwei Mal und ich beobachte das Heben des Brustkorbs, dann beginne ich wieder zu drücken.
“Möchtest du intubieren?”, will ich Caro fragen, aber mittendrin bewegt sich Frau Norden zwischen uns, als sie über ihren Mann steigt und hat Glück, dass sie nicht am Sauerstoffschlauch hängen bleibt und stolpert.
Andreas meldet, dass er 300mg Cordarex aufgezogen hat und mir gelingt es im zweiten Anlauf herauszufinden, dass Caro die Intubation lieber doch mir überlassen möchte.
Wir tauschen in der nächsten Rhythmusanalyse geschmeidig die Plätze. Immer noch Kammerflimmern, wir defibrillieren ein zweites Mal. Caro drückt weiter. Wir geben das Cordarex.
Wir hören ein Martinshorn über den Gewitterlärm, der aus dem Fernseher von unten herauf tönt.
Matthias hat den Tubuscuff geprüft und die Absaugung bereitgestellt, Andreas faltet den Thomas-Holder auseinander.
Ich stelle mir mit dem Laryngoskop die Stimmbandebene dar und fixiere sie mit meinem Blick, während ich Matthias die Hand in taktiler Erwartung des Tubus hinstrecke.
“Nein! Stop!”, ruft Andreas laut und alle blicken ihn erschrocken an. Nur wenige Zentimeter saust ein Stuhlbein vorne an meinem Kopf vorbei, als ich ihn anhebe und sehe, wie Frau Norden erneut über ihren Mann steigt. Sie stellt einen Stuhl neben mich und setzt sich weinend darauf. Das Martinshorn verstummt.
“Ich bleibe bei meinem Toni, das wird gestern bestimmt nicht unser letzter gemeinsamer Rosamunde Pilcher – Abend gewesen sein.”, schluchzt sie.
Wir brechen die Intubation ab und setzen bis zur nächsten Gelegenheit dafür die Herzdruckmassage und Maskenbeatmung fort. Unten hören wir die Mannschaft des HLF die Wohnung betreten. “Wir können unserem Schutzengel danken, dass es keine Komplikationen gab”, tönt es pilcherschnulzig aus dem Fernseher von unten.
Ich rufe hinunter: “Hier oben sind wir!”
Jetzt werden wir uns endlich auch um Frau Norden kümmern können, denke ich.

Eine ganz besondere Ausnahmesituation für Angehörige

Es ist völlig klar, dass eine Reanimation innerhalb einer Familie für die Familienmitglieder eine ganz besondere Ausnahmesituation ist. Es ist eine so extreme Ausnahmesituation, dass man diesen Notfallzeugen immer besondere Aufmerksamkeit schenken muss. Leider ist wie in dem fiktiven, aber realistischen Beispiel oben dafür nicht immer genügend Zeit – oder Personal – vorhanden.
Spielt es eine Rolle, ob ein Familienangehöriger anwesend ist?
Klar ist allein deshalb auch, dass es für das Reanimationsteam eine Rolle spielt, ob ein Familienangehöriger des reanimierten Patienten anwesend ist oder nicht.
Und es ist sicher auch ein Unterschied, ob der anwesende Angehörige passiv und ruhig oder ängstlich und aufgeregt ist.
Hat dieser Umstand aber auch eine messbare Auswirkung auf die Qualität der Reanimation?
Das hat eine britische randomisierte, kontrollierte Studie an PflegeschülerInnen untersucht.

Welche Szenarien wurden in der Studie geschaffen?

Immer vier PflegeschülerInnen bildeten ein First Responder Team, man erhielt so 18 Gruppen. Per Zufall bekam jede Gruppe eines von drei möglichen Reanimationsszenarien zugelost:

  • Patient ohne Familienzeugen
  • Patient mit ruhigem Familienzeugen und
  • Patient mit Familienzeugen in offener Angst und Not.

Die als homogen in Vorerfahrung und Leistungsfähigkeit anzusehenden Teams traten also unter diesen verschiedenen Bedingungen in Aktion. Man dokumentierte eine Reihe von Parametern während der Reanimationen wie zum Beispiel den Zeitpunkt des Hilferufs, Zeitpunkt des Beginns der CPR (Cardiopulmonary Resuscitation = Herz-Lungen-Wiederbelebung) sowie die Drucktiefe und zeitliche Abfolge der Herzdruckmassage in drei Kompressionszyklen.

Hat die Präsenz eines Familienmitglieds eine Auswirkung auf die subjektiv und objektiv gemessene Leistung bei einer Reanimation?

Ja, das spielt laut der Studie eine Rolle.
Die Teams, die ganz ohne Familienangehörige reanimierten, waren am Anfang des BLS (Basic Life Support) besser. Etwa ein Drittel der Thoraxkompression waren effektiv, der Zeitpunkt häufiger richtig, der Kompressionsdruck allerdings auch häufiger zu hoch.
Die Teams, die in Anwesenheit eines Familienzeugen reanimierten, machten am Anfang des BLS mehr Fehler, drückten nicht konsequent zum richtigen Zeitpunkt.
Bei den Teams, bei denen der Familienzeuge sich nicht ruhig, sondern sichtlich ängstlich und aufgeregt verhielt, waren außerdem die Thoraxkompressionen im Vergleich häufiger zu schwach und damit ineffektiv.

Was bedeutet das Studienergebnis für die Praxis im Rettungsdienst?

Die Ergebnisse dieser Studie an PflegeschülerInnen ist sicherlich nicht so einfach auf den professionellen Rettungsdienst übertragbar. Bestimmt führt mehr Übung und Erfahrung zu anderen Ergebnissen.
Dennoch ist es von Wichtigkeit, sich dessen bewusst zu sein, dass die Effizienz der eigenen Arbeit und des Teams auch von solchen Faktoren abhängen kann.
Wer lange genug im Rettungsdienst dabei ist, kann sicherlich aus eigener Erfahrung reichlich vom Einfluss von Angehörigen und deren Verhalten während einer Reanimation erzählen.

Quelle:

Kenny, Gerard, Isabelle Bray, David Pontin, Rachel Jefferies, John Albarran (2017): A randomised controlled trial of student nurse performance of cardiopulmonary resuscitation in a simulated family-witnessed resuscitation scenario, in: Nurse Education in Practice. 24. 10.1016/j.nepr.2017.03.004.

Link:

https://www.researchgate.net/publication/315057154_A_randomised_controlled_trial_of_student_nurse_performance_of_cardiopulmonary_resuscitation_in_a_simulated_family-witnessed_resuscitation_scenario