Ein ganz normaler Notarzteinsatz
Die Einsatzinformationen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren
Ich bin Notarzt. Auf der Rückfahrt zu unserer Rettungswache erhalten wir den nächsten Einsatzalarm. Ich notiere mir die Uhrzeit und den Kilometerstand des Notarzteinsatzfahrzeugs (NEF) auf dem Schmierpapier, das am Klemmbrett der Dokumentationsmappe hängt.
Jemand sei bewusstlos, meldet die DATbox knapp und speist die Einsatzadresse automatisch in das Navi unseres Fahrzeugs ein. Die Route entfaltet sich auf dem Display und wir fahren los, folgen ihr mit Blaulicht und Horn. Abwechselnd beschleunigen wir stark und bremsen wieder ab und arbeiten uns so durch den dichten Verkehr. Ich bin es mittlerweile gewohnt, kann mich wie immer total auf den Rettungsassistenten von der Berufsfeuerwehr verlassen. Wie so oft auf der Anfahrt zum Einsatzort bin ich inzwischen woanders mit meinen Gedanken. Gerade fällt mir die Funkstille besonders auf. Seit der Einführung des Digitalfunks werden die Einsatzdaten nicht mehr über den Funk ausgetauscht. Besonders die knappen Informationen, welches Meldebild mich erwartet und vielleicht noch unter welchen Umständen, fehlen mir.Man bekommt auch nicht mehr mit, welche Einsatzfahrzeuge an den gleichen Einsatzort alarmiert werden. Nun ist also kein gedankliches Vorbereiten während der Fahrt mehr möglich, man wird noch etwas abrupter in eine zeitkritische Situation geworfen. Wir können uns erst vor Ort ein Bild über die Umstände der angegebenen Bewusstlosigkeit machen.
Schneller als der Aufzug mit 20kg Gepäck unter Geruchsangriff
Als das Zielfähnchen auf dem Navi größer wird, sehe ich von weitem schon ein HLF der Berufsfeuerwehr vor dem Mietblock stehen, der ebenfalls unser Ziel ist.
Wir halten, schalten das Blaulicht aus, geben der Leitstelle unseren neuen Status durch und steigen aus. Ich merke mir die Uhrzeit, wie bei jedem Einsatz, bei dem es um eine bewusstlose Person geht. Der Fahrer des HLFs begrüßt uns: “Laufende Rea, 5. Stock, bei Schuster oder Schuhmann oder so ähnlich, wir sind schon oben.”
Wir öffnen den Kofferraum und schnappen uns den roten und blauen Rucksack, die Sauerstoffflasche und das LP15, das ist ein moderner EKG-Monitor mit Defibrillator. Als wir schwer bepackt über den Fußabstreifer treten, der das Zufallen der Eingangstür mit der Hausnummer 31 blockiert, sehen wir den RTW einer privaten Rettungsorganisation um die Ecke biegen, hören konnten wir ihn schon länger.
Im Treppenhaus schlägt mir eine muffige Mischung verschiedenartiger und verschieden alter Gerüche entgegen, die mich nicht gerade ermutigt, die tieferen Atemzüge zu nehmen, die der Aufstieg fordern wird. Viele Kilos hängen an meinem Körper, hinten der Rucksack, an meiner rechten Schulter das alleine schon rund 10 kg schwere LP15. In der linken Hand trage ich mein “Büro”, die Klemmbrett-bewehrte Dokumentationsmappe. Mit jeder Stufe scheint die Ausrüstung auf meinen Schultern schwerer zu werden. Die Gänge, die in den Stockwerken vom Treppenhaus abzweigen, sind nicht über die gesamte Länge einsehbar, daher muss ich die Stockwerke zählen, um nicht an den Kollegen vorbeizulaufen. Mir fällt auf, dass sich in den Stockwerken einzelne Gerüche aus der Mischung im Erdgeschoss isolieren lassen und mir beim Zählen helfen. Immerhin etwas.
Als meine Sicherheitsstiefel auf die Ebene des 5. Stocks treten, bin ich erleichtert, dass ich nicht weiter steigen muss und schnaufe tief durch. Ich nehme das unverwechselbare rhythmische Klackern eines automatisierten externen Defibrillators (AED) wahr und wende mich dem Gang zu, der in Richtung dieses Geräusches führt.
Der routinierte Kampf gegen den Tod beginnt
Gleichzeitig befördert gerade dieses Geräusch mein Bewusstsein in einen fokussierten Modus. Erst rückblickend wird mir bewusst, wie sehr es mich inzwischen konditioniert hat. Der Modus, in den ich versetzt werde, bringt die effiziente geistige Haltung hervor, die zum Wiederbeleben eines klinisch Toten erforderlich ist, indem schnell die richtigen Maßnahmen in der richtigen Reihenfolge zum bestmöglichen Zeitpunkt durchgeführt und koordiniert werden. Dazu gehört am Anfang besonders, zu erkennen, welche Bedingungen für die Reanimation vorhanden sind. Die Bedingungen sind in diesem Fall ganz hervorragend, denn die HLF-Besatzung, ein routiniertes und grundsätzlich exzellent trainiertes Team der Berufsfeuerwehr, ist ja bereits vor Ort.
Die Tür zu der Wohnung, aus dem das Klackern des AED kommt, steht offen. Als ich mich durch den Gang der Wohnung nähere, merke ich, wie andere Türen ins Schloss fallen, aus denen wohl neugierige Nachbarn herausgespäht hatten.
Nun aber spähe ich durch die Wohnungstür des Patienten und werde selbst sofort von einem Kollegen der HLF-Besatzung entdeckt. Als er mir durch den engen Flur der Wohnung entgegengeht, sehe ich an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Ich erkenne einen Feuerwehrkollegen, der kniend im Takt des AED den Brustkorb eines auf dem Boden liegenden Mannes komprimiert.
Während mir das LP 15 abgenommen wird und ich den Rucksack vom Rücken wuchte, konzentriere ich mich auf die Worte des Gruppenführers: “Er lag blitzeblau im Bett, das Telefon noch in der Hand. Kein Puls, da haben wir ihn auf den Boden gelegt und mit der Herzdruckmassage begonnen. Da waren lauter blutige Handtücher im Bett. Der AED hat nicht freigegeben, wir sind jetzt im dritten Zyklus. Zugang ist hergerichtet, wir probierens gerade am Arm. Willst du den LUCAS?” Ich schüttle den Kopf und gehe meinem Fahrer hinterher Richtung Patient. “Er hat wohl mit seinem Freund telefoniert und plötzlich ist das Gespräch von dieser Seite hier abgebrochen. So kam die Alarmierung zustande.”, höre ich.
Ich knie mich an den Kopf des Patienten und ergreife die Beatmungsmaske. Sie wurde eben erst vor einem Moment an die vollständig aufgedrehte Sauerstoffflasche angeschlossen, das Reservoir füllt sich gerade.
Es herrscht rundum ein konzentriertes Arbeiten, mit geübten Griffen wird das EKG geklebt, ein intravenöser Zugang gelegt und die Intubation vorbereitet. “Genau, wir intubieren”, sage ich. Und aus Gewohnheit: “bitte Suprarenin aufziehen!”, obwohl ich weiß, dass mein Rettungsassistent schon dabei ist. Es ist Zeit für die Rhythmusanalyse und die Feuerwehrler nutzen die Pause, um sich beim Drücken abzuwechseln. Auch ich nutze die Pause, um mir den Patienten genauer anzusehen. Ein stark übergewichtiger Mann liegt vor mir, der mittlerweile nackte Bauch wogt auch in der Drückpause noch nach. Unter seinem Po hat sich eine Blutlache gebildet. Das muss ich mir gleich näher ansehen. Die Augen in dem blassen, runden Gesicht blicken mir leer entgegen, die weiten Pupillen kontrastieren stark mit der blassen Lederhaut. Seine hervorspringende, durch die Bewusstlosigkeit schlaff herabhängende Unterlippe fängt für eine kurzen Moment meinen Blick. Wie alt mag er sein? Schwer zu schätzen. 35 Jahre? 40 Jahre?
Irgendwas stört mich an den dunklen, kurzgelockten Haaren, aber ich habe jetzt keine Zeit dafür, das EKG zeigt eine Nulllinie, Asystolie. Ein Blick in den Mund, nichts drin. Die Intubation wird sicher schwierig, denn der massige Brustkorb schiebt sich im Liegen Richtung Kopf, weiches Fettgewebe liegt somit teilweise über dem kurzen Hals. Dort wird es unweigerlich beim Intubieren von unten gegen den Griff des Laryngoskops drücken.
Nun ist auch die RTW-Besatzung in der Wohnung eingetroffen und findet nach einer knappen Begrüßung sofort in ihre Aufgaben.
Die Herzdruckmassage wird fortgesetzt, der Bauch beginnt wieder zu schwingen. Mir fällt darauf die lange, längsgerichtet Narbe in der Mitte des Bauches auf. Wir geben erstmals Suprarenin.
“25, 26, 27, 28, 29, 30!” Vorsichtig beatme ich den Patienten zwei Mal mit der Maske in der kurzen Drückpause, denn ich muss auf jeden Fall vermeiden, den Magen mit Luft zu füllen. Es bereitet mir keinerlei Schwierigkeiten, die Maske bei diesem Patienten dicht zu halten. “Kommt an”, höre ich beide Male von meinem Teamkollegen, der den Brustkorb genau beäugt. Er drückt weiter.
Ich bitte um ein dickes Buch aus dem Bücherregal und um einen Führungsstab im Tubus, während ich die Absaugung mit einem Absaugkatheter bestücke. Ein 7,5er Tubus liegt bereit, die Dichtigkeit des Ballons ist geprüft, das Laryngoskop ist mit einem ausreichend langen Kunststoffspatel bestückt, das Licht funktioniert. Ein gutes Team ist diesen Situationen viel wert.
Das dicke Buch wird mir gereicht und als ich es dem Patienten unter den Kopf lege, lese ich den Titel “Orgelbuch zum Gotteslob – Stammteil Band 1”” und unterdrücke einen aufdringlichen philosophischen Gedanken.
“25, 26, 27, 28, 29, 30!”. Zwei Mal Beatmung. “Beim nächsten Mal intubieren wir, das wird schwierig, bitte helft mir.” Es ist wieder Zeit für das Suprarenin, wir geben es.
Als ich das Laryngoskop zur Hand nehme und den Spatel ausklappe, höre ich ein gurgelndes Geräusch aus dem Rachen des Patienten und weiß schon, was passieren wird, bevor ich es sehe. Ich schalte die Absaugung an und stecke das Schlauchende schnell in den Mund des Patienten. Um die nächsten Handgriffe werde ich ganz sicher von niemandem beneidet. Alle meine Sinne protestieren wegen der extremen Reizflut gleichzeitig. Aber meine Selbstbeherrschung ist stärker.
Der Feuerwehrkollege hat so schnell wie möglich wieder mit den Brustkorbkompressionen begonnen, um die so genannte No-flow-time (NFT) so kurz wie möglich zu halten, also die Zeit, in der das Gehirn des Patienten nicht mit Sauerstoff versorgt wird, da der Kreislauf steht.
Ich beeile mich, den Mund und den Rachen schnell so weit sauber zu machen, dass ich bei der nächsten Drückpause halbwegs gut intubieren kann, denn eine Beatmung mit der Maske würde momentan nicht nur Luft in die Luftröhre pumpen.
“Willst du den?” Ich schaue auf und mir entfährt ein überraschtes “Oh, ja!”, als ich den Lifesaver erblicke, einen langen, flexiblen Stab, auch tracheal tube introducer genannt, den man in die Luftröhre einführt, um dann den Tubus darüber an seinen korrekten Ort zu schieben, wenn es direkt nicht geht.
Das Drücken wird für die Atemwegssicherung unterbrochen, jetzt gilt’s. Mit Hilfe des Sellickhandgriffs, einer erneuten gezielten Absaugung und des untergelegten Buches versenke ich mit einem gut koordinierten Manöver die Spitze des Lifesavers zwischen den Stimmbändern hindurch in die Luftröhre. Nun nur noch den Tubus über den Stab schieben, die Einführtiefe an der Zahnreihe kontrollieren und blocken. Ich höre den Brustkorb mit dem Stethoskop ab, kein Magenblubbern, Atemgeräusche über beiden Seiten der Lunge, der Tubus kann befestigt werden.
Die Herzdruckmassage wird fortgesetzt, ab jetzt ohne Beatmungspausen. Routiniert wird der Luftfilter und eine flexible Tubusverlängerung, die Gänsegurgel, am Tubus angebracht und der Kapnometrie-Sensor, der die CO2-Konzentration der ausgeatmeten Luft des Patienten misst, dazwischen gebaut.
Wir saugen über den Tubus ab. Wenigstens kann ich gut beatmen, es gibt kaum einen Widerstand, wenn ich auf den Beutel drücke. Auch der Kohlenstoffdioxidwert bestätigt die korrekte Beatmung.
Keine alltägliche Reanimation
Wir setzen die Reanimation fort, geben Katecholamine, wechseln beim Drücken durch und optimieren durch die Beatmung den Gasaustausch des Patienten.
Nun habe ich Zeit, mir schnell ein Bild von der Blutungsquelle zu verschaffen, dafür bitte ich einen der Feuerwehrkollegen, das Beatmen zu übernehmen. Ich folge dem blutigen Rinnsal, das den speckigen Fußbodenteppich tränkt und mit seiner charakteristischen Intensität tiefrot färbt, bis zu seiner Quelle und erkenne, dass der Patient aus dem After blutet.
Dieses Bild vor Augen muss ich an die Gegenstände denken, die ich in der endoskopischen Abteilung meines Klinikums schon aus dieser Öffnung geholt habe. Sicherheitshalber führe ich vorsichtig einen Finger ein. Ich kann zwar nichts tasten, bin mir aber relativ sicher, dafür mehr als einen erstaunten Blick geerntet zu haben. Ich streife mir den blutigen Handschuh ab und ziehe mir einen neuen an.
Es ist Zeit für eine Rhythmuskontrolle, das EKG zeigt weiterhin eine Nulllinie, der Patient hat weiterhin keinen Herzschlag.
Die Pupillen des Patienten bleiben weit und reaktionslos.
Laut fasse ich für alle die Situation zusammen: “Relativ junger Patient mit Herzstillstand, intubiert und beatmet, Erbrechen, fragliche Aspiration, starke Blutung aus dem unteren GI-Trakt, Adipositas, plötzlicher kritischer Zustand aus voller Orientiertheit, weite Pupillen, keine Herzrhythmusänderung seit dem Reanimationsbeginn vor 15 Minuten. Keine Information zu Vorerkrankungen, Medikamenten, Angehörigen. War es das so?” Zustimmung.
Haben wir eine Chance?
“OK, das sieht alles nicht so positiv aus, aber ich denke, wir brauchen jetzt ein Intensivbett und ein Bergetuch. Sucht bitte nach Medikamenten und Arztbriefen. Und wenn wir zusätzlich hier noch vor dem Transport einen Kreislauf herkriegen, wäre das großartig.”
Der Sani der RTW-Besatzung verlässt die Wohnung, um die Trage herzurichten und ein Bergetuch zu holen, mein Rettungsassistent geht in den Flur, um mit der Leitstelle zu telefonieren und ein Intensivbett für unseren Patienten zu organisieren.
Probehalber versucht die HLF-Mannschaft, die Erfolgschancen zu ermitteln, das Thoraxkompressionssystem LUCAS am Patienten anzubringen, der limitierte Umfang des Geräts und die Positionierung des Saugnapfs mittig auf dem Brustkorb stellt sie durch den großen Bauch vor große Probleme.
In dieser Zeit übernehme ich wieder den Beatmungsbeutel und blicke einmal mehr in das Gesicht des für diese Art Behandlung ganz ungewöhnlich jungen Patienten. Ich frage mich, was ihn wohl in diese Situation geführt hat. Ein zartes Silberkettchen hängt an seinem Hals, der Anhänger, der rechts auf den kräftigen Nacken gerutscht ist, stellt einen Adler mit ausgebreiteten Schwingen dar. Ich ergreife den Kettenanhänger und sehe ihn mir genauer an. Es ist kein Adler, es ist ein Faravahar. Ungewöhnlich.
Die Rückmeldung “Geht auf keinen Fall” beendet abrupt meine Überlegungen und jene, den LUCAS zu installieren.
“Schau mal, Doc, ich hab Medikamente gefunden.” Ich übergebe erneut den Beatmungsbeutel und sehe mir die Kiste mit Medikamenten an.
Während ich die Tabletten durchsehe, gehe ich zu meinem Fahrer in den Flur, um den Stand bei der Bettensuche zu erfragen. Ich finde ein Antidepressivum, ein Corticoid, ein Antiemetikum und ein Nasenspray in einer extra Klappkiste: Fentanyl für die Nase.
Mein Fahrer hat das Mobiltelefon am Ohr, aber gerade wartet er offenbar.
“Der Kollege in der Leitstelle hat schon mehrere Häuser durchtelefoniert, keines hat Platz, wird wohl auf eine Zwangsbelegung herauslaufen. Er probiert es gerade noch bei einem, aber die sind eigentlich auch abgemeldet. Aber schau mal hier.”
Eine Erfahrung fürs Retter-Leben
Seine freie Hand zeigt auf die Innenseite der aufgebrochenen Eingangstür. Hier klebt ein grüner Aufkleber, der ein weißes Kreuz und den Buchstaben “i” zeigt. Wir sehen uns an.
“Dann war es für ihn doch absehbar”, denke ich mir.
Ich gehe schnell zum Patienten zurück, die Analyse läuft gerade. Weiterhin Asystolie. “Supra, Doc?” Ich nicke. Auf dem Weg in die Küche denke ich mir, wie es sich heute wieder bewahrheitet, wie vorteilhaft die Tatsache ist, dass bei nach den gleichen Standards trainierten Teams die Algorithmen allen Beteiligten bekannt sind und fast jeder jede Aufgabe auch praktisch übernehmen kann. So kann ich mich darauf verlassen, dass eine effiziente Wiederbelebung fortgesetzt wird.
Mein Rettungsassistent hat den Kühlschrank schon geöffnet, so dass ich gleich den identischen Aufkleber von der Wohnungstür an der Kühlschranktür sehe. Im Flaschenfach an der Innenseite der Türe werden wir schnell fündig: eine etwa 10cm hohe, grün-weiße Dose mit Schraubverschluss.
Wir leeren den Inhalt der Notfallbox auf den Küchentisch. Vier gefaltete und gerollte Blätter fallen heraus. Wir finden ein Datenblatt mit allen persönlichen Daten unseres Patienten, eine Medikamentenliste, eine Diagnosenliste und zwei Kopien.
Die Medikamentenliste bringt uns keine neuen Informationen, so dass uns erst die Diagnosenliste interessiert. Sie erklärt einiges.
Unser Patient hat ein Kolorektalkarzinom, einen Dickdarmkrebs, der bereits gestreut hat. Er wurde operiert und erhält eine Chemotherapie. Die Kopien bilden die ersten Seiten einer Patientenverfügung und eines Testaments, jeweils mit einem Hinweis, wo die Originale hinterlegt sind.
“Warte bitte mal mit dem Bett”, sage ich.
Es dauert nicht lange und wir haben alle Unterlagen beisammen, die Klarheit für die nächste Entscheidung bringen. Ich muss die Reanimation beenden.
Am Ende steht das zu frühe Ende
Ich gehe zurück zum Patienten. “Hört mal alle zu, bitte. Wir haben Dokumente gefunden: der Herr hat einen metastasierten Darmkrebs, es gibt eine Patientenverfügung, nach der die Reanimation unterlassen werden soll und ein Testament. Wir hören jetzt auf, ist das für alle OK?”
Reanimationsmaßnahmen einzustellen wird emotional oft so sehr von der Last der Endgültigkeit begleitet, dass es mir wichtig geworden ist, dass jeder Beteiligte für sich die Frage bejaht, dass aufzuhören auch die richtige Entscheidung ist. Und etwas sagen kann, falls das für sie oder ihn nicht ok ist.
Es kehrt Ruhe ein. Langsam wird aufgeräumt, niemand sagt etwas, jeder ist jetzt mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Plötzlich sehe ich eine Person im Flur stehen. Ein kleiner Mann, dunkle Haare, Drei-Tage-Bart, etwas untersetzte Figur. Er muss schon eine ganze Weile im Flur gestanden haben, denn in seinem runden, großflächigen Gesicht spiegeln sich Entsetzen und Trauer gleichermaßen. Es fällt ihm schwer, seine Emotionen zurückzuhalten, zu groß scheint der Verlust.
Ich gehe zu ihm, stelle mich vor. Er war es, der mit dem Patienten telefoniert hatte, als das Gespräch abgebrochen ist.
“Er ist gestorben.” sage ich.
“Ja, jetzt ist es passiert, wir wussten beide, dass dieser Moment irgendwann kommt. Ich danke Ihnen allen.” antwortete er mühsam und belegt eine Stimmlage höher als erwartet in gutem Deutsch mit leicht arabischem Akzent.
“Nehmen Sie in Ruhe Abschied.” Dann widme ich mich dem Notarztprotokoll.
Auch wenn der Patient und sein Angehöriger in diesem Bericht nur zufällig Gemeinsamkeiten mit realen Personen haben und dieser Einsatz nicht wirklich stattgefunden hat, so sind die Elemente darin doch aus echten Reanimationssituationen zusammengestellt. Dieses Beispiel könnte sich in Wirklichkeit genau so zugetragen haben.
Patientenverfügungen sind für Patienten und Retter gleichermaßen extrem wichtig
Dieses Beispiel zeigt, wie entscheidend es gerade in kritischen Situationen ist, schnell die wichtigsten Informationen über den Patienten, der nicht selbst Auskunft geben kann, zu erhalten. Diese wichtigsten Informationen sind die persönlichen Daten mit Kontaktpersonen, Diagnosen- und Medikamentenliste sowie Willenserklärungen wie zum Beispiel Patientenverfügungen. Davon hängen meistens sehr wichtige Entscheidungen ab.
Eine Reanimation zu beenden ist nicht leicht und erfordert Mut. Mut, den man durch jahrelange Erfahrung sammelt.
Während einige junge Notärztinnen oder Notärzte zu Beginn noch zu Verzweiflungstaten neigen, in der vergeblichen Hoffnung, noch etwas für den Patienten tun zu können, wird es mit der Zeit leichter, eine Entscheidung über das Vorgehen in einem Notfall zu fällen.
Zu entscheiden, ob man etwa einen Patienten nach einem 30minütigen Atemstillstand noch tracheotomieren soll, ist einfach. Das macht natürlich auch eine unerfahrene Notärztin oder ein unerfahrener Notarzt nicht.
Aber in Situationen wie der, die oben geschildert wird, ist es schwierig, zu entscheiden, was zu tun oder zu lassen ist.
Im kritischen Einsatz gibt es keine Zeit, Informationen zu suchen
Pro Einsatz sind die Einsatzkräfte meistens danach bemessen, dass die medizinische Versorgung schnell gewährleistet werden kann. Eine lange und ungezielte Suche in Tischen und Schränken ist nicht nur nicht erlaubt, sondern in diesem Rahmen auch nicht möglich. Auch nur in Ausnahmesituationen kann man vorhandene Telefonnummern durchtelefonieren, um von Angehörigen, Betreuern oder Hausärzten mehr oder weniger verlässliche Informationen zu erhalten.
Welcher Ort bietet sich in jeder Wohnung für Patienteninformationen an? – Der Kühlschrank!
Eine Idee zur Lösung dieses alltäglichen Problems im Rettungsdienst kam in England auf. Meines Wissens hat sich die Idee bei uns in München im Gegensatz zu anderen Gebieten Deutschlands längst noch nicht durchgesetzt und ist – im Gegenteil sogar – kaum bekannt.
In England kann man sich ein “Emergency Medical Information Kit” in Form einer Flasche bestellen, die man mit den genannten Dokumenten füllt und in den Kühlschrank stellt. Dazu kommt ein gut sichtbarer Magnet, den man auf den Kühlschrank setzt.
Einen Kühlschrank gibt es schließlich in jeder noch so kleinen Wohnung.
Inzwischen gibt es auch mehrere deutsche Anbieter dieser Notfallboxen, diese kommen mit Aufklebern für den Kühlschrank und den Eingangsbereich der Wohnung, damit der Rettungsdienst gleich sieht, dass er im Kühlschrank fündig wird.
Eine versteckte Patientenverfügung ist wie keine Patientenverfügung
Eine Patientenverfügung oder Behandlungshinweise können nur dann auch in der Praxis wirksam sein, wenn die Behandler diese Information rechtzeitig erhalten.
Patienten, die alleine leben, sind darauf angewiesen, dass diese Informationen sofort gefunden werden, wenn sie nicht mehr sprechen können.
In diesem Fall ist die Notfallbox im Kühlschrank eine äußerst sinnvolle Anschaffung.
Eine Patientenverfügung sollte so konkret sein, dass daraus Konsequenzen für den Notfall folgen, falls das gewünscht ist. Eine zu allgemeine Verfügung, die nicht auf einen konkreten Fall angewendet werden kann, ist nutzlos und sollte gar nicht erst formuliert werden. Der Hausarzt kann im Einzelfall sicher bei der Formulierung einer Patientenvollmacht eine große Hilfe sein.
Alle, die im Rettungsdienst tätig sind, müssen wissen, dass sich im Kühlschrank Informationen zum Patienten befinden können
Und natürlich sollte es ab sofort zum Profiwissen jedes Rettungsdienstmitarbeiters gehören, dass der Kühlschrank und nicht der Wohnzimmerschrank einer Wohnung die wichtigsten Informationen des Patienten enthält.
Hatte man bisher vielleicht bei Verdacht auf einen Unterzucker den Kühlschrank einer Patientenwohnung auf der Suche nach einem Hinweis in Form eines gekühlten Insulinpens geöffnet, sollte das ab sofort in kritischen Situationen immer zur Routine werden.
Wo gibt es die Notfall-Dosen für den Kühlschrank?
In diesem Artikel vermeide ich es ganz bewusst, Links zum Erwerb von Notfallboxen zu hinterlegen, um den Eindruck von Werbung zu vermeiden. Dies liegt mir fern.
Es gibt mittlerweile viele derartige Anbieter, die man im Internet finden kann. Und kreative Menschen können sich das Set sicher sogar selber basteln.
Chirurgie am Stachus – die notfallkompetente chirurgisches Praxis in München, immer auf dem aktuellen Stand