Aus dem Alltag eines Dienstarztes
Ich bin Arzt in einem Krankenhaus. Heute werde ich für 24h in der Klinik bleiben, ich wurde als Dienstarzt eingeteilt. Die ersten sechs Stunden habe ich am OP-Tisch gestanden, 18 Stunden liegen noch vor mir. 16 Stunden davon sind als Bereitschaftsdienst deklariert, das heißt, ich kann ruhen, wenn keine Arbeit anfällt.
Ich gehe auf die Station und helfe mit, die neuen Patienten für die Operation am nächsten Tag vorzubereiten. Bevor die Kollegen in den Feierabend gehen, werden gemeinsamEntlassungsbriefe geschrieben. Die Kollegen verabschieden sich, ich erledige noch den Rest der Schreib- und Stationsarbeit, denn ich hab ja Dienst.
Immer wieder läutet mein Telefon, denn auf den anderen Stationen ist auch noch Stationsarbeit liegen geblieben, die wichtig ist und ebenfalls erledigt werden muss. Auch in der Nothilfe wird es voll, sie brauchen meine Unterstützung. Ich beginne eine Prioritätenliste in meinem Kopf, die ich so zügig wie geboten und möglich abarbeite.
Auf dem Weg in die Nothilfe treffe ich den Notarzt, der sich gerade am Automaten ein Getränk ziehen will, als sein Alarmpiepser wieder losgeht. Er begrüßt mich mich mit den Worten “Heute komm ich wieder nicht mal dazu, etwas zu trinken”, als er an mir vorbei Richtung Einsatzfahrzeug trabt. Ich verschaffe mir einen Überblick über die Patienten und beginne nach Dringlichkeit zu behandeln. Bauchweh mit Erbrechen, Drehschwindel, Herzinfarkt, Platzwunde, Rückenschmerzen. Ich muss die Notfälle erkennen, richtig behandeln, immer konzentriert sein, es darf kein Fehler passieren. So vergehen die Stunden.
Ich werde müde, hungrig. Der Patient mit der offenen Fraktur, der heute noch operiert werden muss, sobald die laufende Operation beendet ist, bekommt noch ein starkes Schmerzmittel von mir, damit er die Wartezeit besser übersteht. Bevor ich die Patientin mit den seit Wochen bestehenden Rückenschmerzen drannehme, esse ich schnell etwas, während ich kauend die Dokumentation kurz zwischendurch behandelter Lappalien fertigstelle. Viel verärgerter wird die Rückenschmerzpatientin jetzt auch nicht mehr werden, weil sie seit Stunden nicht aufgerufen wurde und so am längsten warten musste.
Das Essen im Magen tut gut, der Hunger verschwindet, aber die Müdigkeit wird schlagartig schlimmer. Mein Diensttelefon beginnt im Minutentakt zu läuten, auf den Stationen wurde der Schichtwechsel vollzogen und man hat sich offenbar dazu entschlossen, gleichzeitig dem Dienstarzt alle fehlenden Infusionszugänge zu melden. Ich schreibe mir eine Liste. Währenddessen tritt der Notarzt in den Raum und will mir von einer “krassen Geschichte” erzählen, die er gerade erlebt hat. Doch erst versucht er, eine weiche Käsesemmel aus der Kühlschublade aufzupeppen, indem er sie in die Mikrowelle legt. Inzwischen sehe ich den Namen der Rückenschmerzpatientin nach, um sie aufzurufen. Erst die Patientin, dann die Geschichte, dann die Stationen, dann das Bett: das ist mein Plan. Als ich die Patientin in den Behandlungsraum bringe, höre ich den Alarmpiepser des Notarztes gefolgt von einem mir nicht geläufigen Schimpfwort.
Ich untersuche die stark gereizte Patientin und überhöre ihre bissigen Kommentare, die meine eigene und die Kompetenz des ganzen Krankenhauses ins Visier nehmen.
Während sie von empörter Energie überfließt, kann ich vor Müdigkeit und perzipierter Sinnlosigkeit kaum die Motivation aufbringen, der Dame die Situation und die Gründe ihres Wartens zu erklären, wodurch ich mir merklich zusätzliche Minuspunkte verdiene.
Als sollte es die Stimmung der Patientin untermalen, beginnt es plötzlich vom Gang her ausgesprochen sauer zu riechen.
Der Rettungsdienst hat einen stark betrunkenen Patienten auf einer Rettungstrage und in stabiler Seitenlage hereingefahren, der eine Mischung aller erdenklichen Körperflüssigkeiten in seinem Bergetuch angesammelt hat.
Eine Mischung führt dieser Patient dann auch in meinen Gefühlen herbei, überwiegend abstoßender Art.
Immerhin verlässt die Rückenschmerzpatientin nun die Nothilfe. Die überhastete Manier ihres Abschieds lässt in meinem schon trägen und gleichzeitig bilder- und geruchsüberfluteten Gehirn kurz den Gedanken “wie geheilt” aufblitzen. Sie rennt fast in den Notarzt, der mir nun noch einen Chestpain-Patienten (Brustschmerz-Patienten) mit den typischen Herzinfarkt-Symptomen bringt.
Nach der Übergabe wünscht mir der Kollege Notarzt eine gute Nacht und einen ruhigen Dienst. “Dir auch”, grinse ich zurück.
Ich bin wieder wacher, der Notfall aktiviert Reserven. Ich arbeite zügig das Routineprogramm erst zur Diagnostik und dann zur Vorbereitung einer Notfallintervention in Form eines Herzkatheters ab, um dem Patienten mit dem akuten Herzinfarkt das Leben zu retten. Schließlich fährt der Patient aus der Nothilfe in das Herzkatheterlabor, wo das Team auf ihn wartet, das ich aktiviert habe.
Es ist weit nach Mitternacht. Ich kann kaum noch die Augen offen halten. Schlägt eigentlich mein Herz gerade langsamer?
Der Betrunkene ist von der Liege gestiegen und torkelt Richtung Ausgang. Er ist längst nicht geschäftsfähig, mir obliegt die Fürsorgepflicht. Ich bringe ihn zurück ins Bett, zum Glück wird er nicht aggressiv, ich bitte ihn, zu schlafen.
Als ich wieder auf den Gang trete, sehe ich wieder eine Person torkeln. Diesmal ist es der Notarzt. Ich weiß, er verdient 15 Euro die Stunde, fährt eigentlich mehr zum Spaß. Spaß scheint gerade nicht sein Motto zu sein, denke ich mir.
Im Aufzug ist die Versuchung groß, gleich in das Stockwerk, in dem sich mein Dienstzimmer befindet, zu fahren. Doch ich mache brav die Runde über die Stationen, viele Infusionen haben sich zum Glück inzwischen erledigt.
2.40 Uhr liege ich im Bett meines Dienstzimmers. Ich überlege kurz, ob ich die verbleibende Zeit bis zur Frühbesprechung ausrechnen soll, aber das Denken fällt mir für eine Rechnung schon viel zu schwer. Leicht geht dagegen das Einschlafen.
Ich schiebe die Gedanken an die Eindrücke der letzten Stunden beiseite und gebe mich der Schwere meines erschöpften Körpers und Geistes hin.
Etwa 90 Minuten später reißt mich der Klingelton des Diensttelefons aus dem Schlaf. Ich höre die Stimme einer Nachtschwester, ihre Worte, dann erst wird mir klar, dass sie mit mir redet. Ich habe nicht verstanden, was sie gesagt hat. Ein operierter Patient mit Bauchschmerzen. Ich versuche mir die Station zu merken und murmle “Ich komme!” in das Telefon und lege auf. Der Gedanke, jetzt aufstehen zu müssen, ist grausam und die körperliche Reaktion auf die Störung wird spürbar. Meine Nebennieren schicken ungnädig einen Bolus Katecholamine zum Herzen, es fühlt sich unangenehm an, wie sich unwillkürlich die Herzfrequenz erhöht. Und gleichzeitig baden meine Muskeln noch träge im Melatoninbad und liegen schwer auf der Matratze. Fast mit Gewalt muss ich die Lunge zwingen, die noch tiefen Atemzüge zu beschleunigen.
Einige Minuten später torkle ich schlaftrunken durch den Gang und finde mein Gleichgewicht rechtzeitig vor dem Treppenhaus wieder.
Den stark übergewichtigen Patienten mit den Bauchschmerzen, wegen dem ich nun aufgestanden bin, kann ich beruhigen. Er wurde am Vortag am Rücken operiert und dort ist alles in Ordnung. Die Schmerzen am Bauch kommen von einer Pilzinfektion in der untersten Bauchfalte. Scheinbar konnte der Patient dieses Problem nicht früher merken. Ich ordne gerade eine Salbe an, als das Diensttelefon erneut läutet und zwei in der Nothilfe eingetroffene Patienten meldet.
Mir wird klar, dass ich das Bett diese Nacht nicht mehr sehen werde.
Die Kollegen erscheinen zur Arbeit und ich habe das Gefühl, gar nicht geschlafen zu haben. Doch, denke ich, 90 Minuten, ca. einen Schlafzyklus lang.
Ich bin wieder über meine körperlichen und kognitiven Grenzen gegangen, weil ich nicht anders konnte.
Man merkt dann selbst, dass man gerade nicht die optimale Leistung bringt, weil man eben erschöpft ist. Das ist halt das System, die Arbeit, 24h-Dienste gehören dazu. Ich mache es für die Patienten, die Hilfe brauchen, sich darauf zu konzentrieren, hilft.
Und gleichzeitig weiß ich, dass diese Dienste nicht gesund sind, ich merke es jeden Dienst. Im ersten Dienst habe ich das schon gespürt und dann jeden Dienst wieder aufs Neue und ein bisschen mehr.
Was passiert denn, wenn der Schlaf entfällt?
Das Verständnis des Schlafes als Phase der Regeneration und des Ausruhens nach den Strapazen eines Tages ist vielen Menschen geläufig.
Sind diese schlafarmen oder gar schlaflosen Dienste nur nicht gesund? Oder machen sie sogar krank? Könnte man sich gut vorstellen.
Als betroffener Nachtschichtler fragt man sich natürlich als nächstes, ob man den Gesundheitsschaden wieder gutmachen kann.
Kann man sich nicht einfach später gesundschlafen?
Die Antwort lautet nein. In Untersuchungen wurde festgestellt, dass Nachtschichtarbeit chronische Erkrankungen verschlechtert.
Und eigentlich wundert man sich auch nicht sehr, dass eine Dosis-Wirkungsbeziehung zwischen Nachtschichtarbeit und dem Auftreten von Brustkrebs besteht, auch wenn man hier nicht gleich versteht, warum und wie das zusammenhängen soll.
Wie könnte denn Krebs durch Schlafentzug entstehen?
Hierzu gibt es eine chinesische Studie von 2019, die darauf eine Antwort geben könnte.¹
Sie untersucht, ob der dienstbedingte Schlafentzug das DNA-Reparatursystem in den Zellen behindert. Normalerweise herrscht in jedem Zellkern ein dynamisches Gleichgewicht aus Oxidationsschäden an der DNA und enzymatischen Reparaturen dieser Schäden. Würde man nach Schlafentzug größere Schäden finden als erwartet, würde das also für ein gestörtes Gleichgewicht im DNA-Reparatursystem der Zelle sprechen.
Auf die Idee, diese Studie durchzuführen, kam man, weil man bei Tieren bereit festgestellt hatte, dass Schlafentzug zu DNA-Schäden in bestimmten Organen führen kann.
Wie wurde untersucht, ob durch den Schlafentzug im Dienst mehr DNA geschädigt wurde als nach einer erholsamen Nacht?
51 Ärzte wurden in der Studie untersucht. Man teilte sie in zwei Gruppen ein.
Die einen, die fünf bis sechs Mal im Monat durch Dienste im Krankenhaus weniger als drei Stunden schlafen konnten, also weniger als zwei Schlafzyklen bekamen.
Die Ärzte der zweiten Gruppe arbeiteten zwar genauso in diesen Krankenhäusern, nahmen aber nicht an den 24-Stunden-Diensten teil und erlitten daher keinen Schlafentzug.
Ausgeschlossen wurden dann in beiden Gruppen alle Ärzte mit akuten oder chronischen Krankheiten, mit anders gearteter Schlaflosigkeit, starkem Übergewicht, alle Raucher, Alkoholkonsumenten und diejenigen, die Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel wie Vitamine oder Fischöl zu sich nahmen. So verglich man nur körperlich gesunde und derart vergleichbare Probanden miteinander.
In der vier Monate andauernden Studie entnahm man nun den Ärzten über vier Monate lang jeweils morgens Blut. Man untersuchte in diesen Blutproben die enthaltenen weißen Blutkörperchen, genauer die Lymphozyten. Und zwar untersuchte man diese Lymphozyten darauf, ob die DNA Schaden aufwies. Man verglich dann die Menge des festgestellten DNA-Schadens im Blut der Ärzte, die nachts kaum schlafen konnten mit dem DNA-Schaden in den Lymphozyten der Kollegen, die nachts normal schlafen konnten und mit den Werten, die sie selbst im ausgeruhten Zustand morgens aufwiesen.
Der DNA-Schaden, den man quantitativ untersuchte, war die Menge an oxidationsbedingten Schäden wie Strangbrüchen oder oxidierten Purinen.
Zeigt die Studie, ob ein fast schlafloser Dienst die DNA dauerhaft und schwerwiegend schädigen kann?
Ja, zeigt sie ganz klar. Am Morgen nach einem dienstbedingten Schlafentzug zeigten die Lymphozyten statistisch signifikant erhöhte DNA-Schäden wie Strangbrüche und oxidierte Purine im Vergleich zu den ausgeschlafenen Kollegen. Die DNA-Reparationsenzyme waren reduziert und die antioxidative Plasmakapazität war erniedrigt.
Während Doppelstrangbrüche der DNA “nur” den Tod der Zelle bedeuten, kann eine fehlerhafte Reparatur dagegen zu inkorrekten Vereinigungen von DNA-Enden führen. Diese Fehlvereinigungen der DNA liegen tatsächlich oftmals onkogenen Transformationen zugrunde und können so zu Krebs führen.
Zeigt diese Studie auch, um wieviel der Schaden an der DNA bei Schlafentzug im Dienst größer ist als bei erholsamer Nachtruhe?
Ja, auch das zeigt sie. Ärzte, die über Nacht vor Ort arbeiten müssen und nicht mehr als drei Stunden schlafen können, haben im zeitlichen Durchschnitt 30% höhere DNA-Brüche und alkalilabile Stellen im Vergleich zu den Ärzten, die nachts schlafen können. Dieser DNA-Schaden wird nach einer Dienstnacht mit akutem Schlafentzug nochmal um über 25% erhöht.
Was bedeutet das jetzt?
Diese äußerst realitätsnahe Studie macht deutlich, dass bei schlafentziehenden Nachtschichten das DNA-Reparatursystem von jungen, gesunden Ärzten tatsächlich erheblich leidet und relativ große DNA-Schäden entstehen.
Der Schaden ist erheblich, Erhöhungen von 30% im Durchschnitt und 50% direkt am Morgen nach einem solchen Dienst hätte man wahrscheinlich nicht erwartet.
Zwar ist noch kein kausaler Zusammenhang zwischen der Erhöhung des DNA-Schadens und einer Krebsart hergestellt worden, das erscheint aufgrund des Ergebnisses dieser Studie aber nur noch eine Frage der Zeit zu sein.
Vielleicht sieht man dann den schlafentziehenden Nachtdienst irgendwann neben anderen Karzinogenen stehen, wie polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen, Nitrosaminen, Arsen, Asbest, Rauchen oder UV-Strahlung.
Welche arbeitsschutzrechtlichen Konsequenzen dies hätte und welcher Umbruch im Gesundheitsssystem zu erwarten wäre, darüber darf man ruhig schon mal nachdenken.
Quelle:
¹Cheung, V & Yuen, Vivian & Wong, Gordon & Choi, Siu-Wai. (2019). The effect of sleep deprivation and disruption on DNA damage and health of doctors. Anaesthesia. 10.1111/anae.14533.
Link zum Paper:
https://www.researchgate.net/publication/330612235_The_effect_of_sleep_deprivation_and_disruption_on_DNA_damage_and_health_of_doctors