Schwer verletzt und eingeklemmt!

Schwer verletzt: Muss jeder wache, atmende Patient intubiert werden? Eine Studie hat eben dies 2019 untersucht. Ein Fallbeispiel.

Intubieren oder nicht?

Als Praktikant auf dem Notarzteinsatzfahrzeug

Wir hatten seit Schichtbeginn vor ein paar Stunden noch keinen einzigen Einsatz gehabt und saßen seitdem in den Wachräumen des Notarztstandortes. Durch die mittlerweile einsetzende Langeweile, begann ich mich zu fragen, ob die Erzählungen von Dr. Patrick Boretzer der einzige Praktikumsinhalt am heutigen Tage bleiben sollten.
Dr. Boretzer war bei Praktikanten einer der begehrtesten Notärzte und auch ich war froh über diese Gelegenheit, heute bei ihm lernen zu dürfen. Er war Mitte fünfzig und seit über 25 Jahren im städtischen Rettungsdienst und bei der Bergwacht als Notarzt tätig und teilte seine Erfahrung gerne auch mit angehenden Ärzten wie mir.
Momentan begann sich in mir allerdings das bedrückende Gefühl der Enttäuschung breit zu machen, denn inzwischen redete Dr. Boretzer schon seit sicher einer halben Stunde nur über eine Sache. Er sprach darüber, dass er sich, um den Vitalzustand eines Patienten einzuschätzen und die Maßnahmen in einer sinnvollen Abfolge durchzuführen, am Anfang seiner Notarztkarriere eine eigene Systematik angewöhnt hätte und dass ihm diese heute immer noch perfekte Dienste erweise. Die neumodischen, mit Anglizismen und Eitelkeit überladenen, so genannten Standards brächten ihm keinen Mehrwert. Ich hörte inzwischen kaum mehr zu, denn ich hatte den Punkt seiner Ausführungen längst verstanden, während es ihm offenbar sehr gefiel, im Monolog und im Detail die Entbehrlichkeit von viel bekannten Akronymen zu diskutieren.
Ich fragte mich, was Marc davon hielt, doch der Rettungsassistent der Berufsfeuerwehr hatte sich auf der Couch ausgestreckt und die Augen geschlossen. Vor mittlerweile ziemlich genau drei Stunden hatten wir gemeinsam das Notarzteinsatzfahrzeug selbst und unsere Ausrüstung gecheckt. Marc hatte auch das Ablaufdatum aller Medikamente im Ampullarium kontrolliert und ich hatte bei dieser Gelegenheit versucht, mich daran zu erinnern, zu welchem Zweck man die Medikamente jeweils einsetzte. Viele davon waren mir geläufig, doch bei einigen hatte mir der Rettungsassistent auf die Sprünge helfen müssen. Nur bei Einzelnen, von denen Marc gesagt hatte, dass er noch nie erlebt hätte, dass sie eingesetzt worden wären, waren wir beide nicht darauf gekommen und ich hatte mir vorgenommen, deren Wirkung nachzulesen.
Über dem anhaltenden, inhaltlich unverändert wiederholtem Monolog von Dr. Boretzer bildete ich mir ein, dass ich Marc nun leise schnarchen gehört hätte, ich konnte mich aber auch geirrt haben. Sollte ich meine Zeit hier ungenutzt verstreichen lassen? Ich stand auf und ging zu dem Schrank hinüber, in dem eine Menge Ordner, aber auch eine Reihe Fachbücher standen. Ich zog ein schmales Buch über Medikamente im Rettungsdienst heraus und setzte mich damit an den Tisch.
Ich legte es vor mich hin und schlug es auf.
Zum selben Zeitpunkt gab es gar nicht so viele Kilometer weit entfernt auf der Autobahn einen fürchterlichen Knall, als dort ein PKW hinten auf einen abbremsenden Kleinbus krachte. Davon wusste ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nichts und begann in Ruhe zu lesen.

Das sieht übel aus!

„VU, eingeklemmte Person, vermutlich schwer verletzt”. Dr. Boretzer las das Alarmierungsfax vor, als wir nur wenige Minuten später im NEF saßen.
Vom Rücksitz aus beobachtete ich Marc, wie er abwechselnd auf die Bremse stieg, dann wieder das Gaspedal durchtrat und das Fahrzeug geschickt durch den Stadtverkehr in die Richtung der nächstgelegenen Autobahnauffahrt lenkte.
Dr. Boretzer drehte sich halb zu mir nach hinten um.
„Hast du schon einmal eine Thoraxdrainage gelegt?”
Ich verneinte.
„Dann musst du es lernen.” sagte Dr. Boretzer laut, um das Martinshorn zu übertönen. Er streckte mir seinen Zeigefinger entgegen und grinste. „Man braucht nicht viel mehr als DAS.”
Als wir auf die Autobahn auffuhren, gesellten sich die energischen Töne weiterer Martinshörner zu unserem, allerdings in der Ferne. Ich konnte nicht ausmachen, aus welcher Richtung genau. Die Hörner begleiteten uns und ich meinte, es wurden auch mehr.
Der Verkehr stockte und wir fuhren in eine Rettungsgasse ein.
Das alles waren die Folgen dessen, was passiert war und das konnte also keine Kleinigkeit gewesen sein. Erst als mir das bewusst wurde, schoss mir das Adrenalin aus den Nebennieren und mein Herz begann aufgeregt und spürbar zu schlagen.
Was würde uns erwarten? Welcher Anblick? Leid? Tod? Was würde eine extreme Erfahrung mit mir machen? Würde ich funktionieren und handlungsfähig sein, würde ich helfen können?
Bald konnte ich vor uns Blaulicht sehen, es kam vom Dach eines PKW in rot-weiß-gelben Farben.
„Es ist erst der First-Responder da”, sagte Marc.
„Ui, das sieht übel aus!”, meinte Dr. Boretzer, als wir hinter diesem PKW hielten und da wurde der Blick auch für mich auf der Rückbank frei auf einen PKW rechts von uns, der mit dem hinteren Ende eines Kleinbusses verschmolzen schien.
Ich sah das First-Responder-Team auf beiden Seiten des PKW stehen, dessen Knautschzonenbereich sich stark verformt im Heck des Kleinbusses verkeilt hatte. Die Frontscheibe aus Verbundglas war breit eingedrückt und kam mir vor wie ein Spinnennetz aus Bruchlinien, in dem sich statt einer Spinne ein zentrales Loch befand. Das Glas der Scheibe der Fahrertür war dagegen in einigen tausend Splittern herabgefallen. Durch die geschlossenen Scheiben unseres NEF konnte ich den verunfallten Fahrer schreien hören. Das Schreien wurde lauter, als Marc und Dr. Boretzer ihre Türen öffneten. Wir stiegen aus dem NEF und trafen uns kurz am Kofferraum, um uns den roten Kreislaufkoffer mit dem Ampullarium, den blauen Atmungskoffer, das LP 15, den modernen EKG-Monitor mit Defibrillator und das Thoraxdrainageset zu greifen.
Die Schmerzensschreie aus dem Auto ließen nicht nach und sie hallten in meinem Kopf nach. Ich konnte mich auf nichts mehr anderes mehr konzentrieren. Die aufgeregt rufenden Stimmen der vielen anderen Menschen am Ort nahm ich nicht wahr. „Wer schreit, kriegt Luft.”, sagte ich still zu den Schmerzensschreien in meinem Kopf. „Der ist wach.”, schlussfolgerte ich leise für mich und sprach damit mehr zu mir als zu irgendjemand anderem. Dann setzte ich mir schnell den Helm auf, genau wie Marc, und wappnete mich innerlich für die kommenden Eindrücke. Glücklicherweise hatte ich meine Einsatzjacke bereits im NEF angezogen und so eilte ich schnell hinter Marc her, Richtung Unfallauto und bei jedem Schritt knirschten die Glassplitter unter meinen Sicherheitsstiefeln.

Feuerwehrleute sind Experten in der technischen und medizinischen Rettung

Wie Analgesie nicht geht

Dr. Boretzer eilte, in seinen Mokassins um die gröberen Autoteile und Glassplitter herum tänzelnd, vor uns zur sichtbar eingedrückten Fahrertür.
Der Kollege vom First-Responder-Team, der dort an der Fahrertür stand, wandte sich unserem Doc zu und begann zu berichten, gerade, als ich ankam.
„Nach allem, was ich bisher sehen konnte, ist er mit den Beinen eingeklemmt und der linke Fuß komisch abgeknickt und die Hose voller Blut. Ich hab den Gurt durchgeschnitten und nach weiteren Verletzungen gesucht, man kann ihn aber bis jetzt nicht gut untersuchen, alles ist voller Splitter und er hat Schmerzen.”
Die letzten Worte musste er schreien, denn das HLF, das Hilfeleistungslöschgruppenfahrzeug der Berufsfeuerwehr, war mit ohrenbetäubend lautem Horn angekommen. Die Besatzung strömte aus dem Fahrzeug und der Gruppenführer schlug sofort unsere Richtung ein. Ich registrierte, dass Marc hinter mir von Dr. Boretzer Anweisungen bekam und daraufhin den roten Koffer öffnete und das Ampullarium zur Hand nahm, aber mich fesselte jetzt die ruhige Zielstrebigkeit der Feuerwehrleute. Ich wusste natürlich nicht, inwiefern sie bereits einen Einsatzbefehl ihres Gruppenführer im Fahrzeug erhalten hatten, aber sie teilten sich auf, einige legten eine rote Plane zwischen das HLF und den Unfall-PKW. Andere trugen schon Gerät aus dem Fahrzeug, das für die Technische Rettung, die Stabilisierung, für die Absicherung und für die Medizinische Rettung notwendig war.
Auf der einen Seite war da ich: alleine Gedanke an den verunglückten Menschen in diesem Auto ließ mein Herz aufgeregt schlagen und meinen Kopf beherrschte ein Chaos aus Leitlinien, ABC-Regeln, Dringlichkeiten und Ungewissheit. Auf der anderen Seite waren da diese perfekt organisierten Feuerwehrbeamten, die in aller Selbstsicherheit, Professionalität und Ruhe ihre Arbeit kannten und einfach machten. Ich war so beeindruckt davon, dass ich staunend stehengeblieben war und Dr. Boretzer meine Aufmerksamkeit zurückfordern musste.
„Hier spielt die Musik!”, ermahnte er mich, als er die Hand des vor Schmerzen stöhnenden Verletzten mit seiner linken Hand umklammert hielt, während Marc die Jacke des Patienten mit der Rettungsschere längs des Unterarms aufschnitt. Es sollte ein venöser Zugang gelegt werden, der Doc griff sich eine Venenkanüle. Ich fand schnell in meine Aufgabe, legte den Stauchschlauch an, desinfizierte, wischte und klebte nach erfolgreicher Venenpunktion den Zugang fest. Die Infusion lief gut.
Der Gruppenführer war um das Unfallfahrzeug herumgegangen, hatte den Unterboden erkundet, den Tankdeckel geöffnet und versuchte nun, die Aufmerksamkeit von Dr. Boretzer zu erlangen, dieser wandte sich aber Marc und den Medikamenten zu.
„Fenta bitte!” hörte ich.

Schnelle oder schonende Rettung?

„Schnelle oder schonende Rettung?”, fragte der Gruppenführer den Notarzt. Für eine Sofortrettung bestand kein Anlass, das war auch mir klar, diese wäre beispielsweise bei einem Brand oder bei der Notwendigkeit, den Patienten zu reanimieren, gegeben gewesen.
Dr. Boretzer blickte auf und sagte „Schonend. Ich gebe jetzt was gegen die Schmerzen und dann haben wir Zeit. Wenn sich etwas verändert, gebe ich Bescheid.”
Der Gruppenführer wandte sich seinen Männern zu, die sofort begannen, das Fahrzeug mit Unterbauklötzen gegen Bewegung zu sichern.
Ich beobachtete einen Feuerwehrmann, wie er durch das Beifahrerfenster zu unserem Patienten stieg. Gleichzeitig versuchte ich, die Entscheidung des Notarztes nachzuvollziehen, denn die schonende Rettung, bei der man über 30 Minuten brauchen dürfte, um die Wirbelsäule des Patienten perfekt ruhigzustellen und ihn nach hinten über das entfernte Dach herauszuziehen, setzte voraus, dass keine Bewusstlosigkeit, keine Blutung oder keine erhebliche andere Verletzung des Rumpfes oder der Arme und Beine bestand.
Marc schien meine Gedanken zu erraten, denn er blickte mich an und zuckte kurz mit den Schultern, als er Dr. Boretzer die Spritze mit Fentanyl reichte.
Ich sah, dass der Feuerwehrkollege im PKW mit dem Patienten redete, auch um ihn zu beruhigen, konnte aber nicht hören, was er genau sagte. Es wurde nun ein Stifneck, die Patientenschutzfolie und der harte Patientenschutzschild hineingereicht.
Kein Wort war dazu nötig, es war eine perfekte, professionelle Choreographie der Rettung, das Ergebnis routinierten Trainings.
Da sich der Patient vor Schmerzen wand, half Marc beim Anlegen des Stifnecks. Gleichzeitig gab Dr. Boretzer dem Patienten Fentanyl über den Venenzugang.
Der Patientenschutzschild wurde zwischen die eingedrückte Fahrertür und den Patienten geschoben und wir wichen vom PKW zurück, um die Feuerwehrkollegen mit dem hydraulischen Spreizer vorzulassen.
Der Patient hatte aufgehört, zu schreien. Auch um ihn wieder sehen zu können, entschied ich mich, um das Auto herum auf die Beifahrerseite zu gehen. Ich nahm die Blutdruckmanschette mit dem Einverständnis von Marc und Dr. Boretzer gleich mit mir.
Ich sah, dass der Feuerwehrkollege beim Patienten im PKW sich über den Patienten lehnte und ihn mit dem Schild beschirmte, während er mit der rechten Hand im Fußraum an den Pedalen hantierte. Ich trat an die Tür, als er wieder aufblickte. „Offener Bruch und luxiert.”, sagte er zu mir. Die Karosserie des PKW knackte laut, als sich die Fahrertür löste.
Der Feuerwehrmann im Auto legte dem Patienten die Blutdruckmanschette an, die ich ihm gegeben hatte und pumpte sie auf.
Nun musste ich einige Schritte zurücktreten, denn die restlichen Scheiben wurden nun mit Folie beklebt, um dann zerbrochen und entfernt zu werden.
Die präzise, koordinierte und dadurch effektive und schnelle Arbeit des Feuerwehrtrupps war ermutigend und Ansporn, seinen eigenen Arbeitsbeitrag in diesen professionellen Ablauf zu integrieren. Umso mehr bewunderte ich diese Helden des Alltags, da ich ja schon einige von ihnen kannte, in ihrer Art bescheiden, nie Dank einfordernd, immer einsatzklar und selbstlos zum Äußersten bereit.
Mit dem Hydraulikspreizer wurde jetzt der Fußraum erweitert und ich erwartete, dass unser Patient auf die Befreiung seiner eingeklemmten Beine reagieren würde.
Stattdessen begann der Feuerwehrkollege beim Patienten im PKW wild zu rufen und Richtung Dr. Boretzer, der inzwischen sehr beschäftigt mit dem Schreiben des Protokolls schien, zu gestikulieren. Doch ich war nach ihm der erste, der erkannte, dass der Patient reglos und zyanotisch in sich zusammengesunken war.

Hydraulisches Gerät zur Befreiung des eingeklemmten Patienten

Eingeklemmt und bewusstlos! Was zuerst tun?

Nun musste es ganz schnell gehen. Auch der Gruppenführer durchschaute die Situation noch vor Dr. Boretzer.
Die Arbeitsschritte, um das Dach zu entfernen, wurden unterbrochen. Dr. Boretzer kletterte auf den Rücksitz hinter den Patienten und der Feuerwehrkollege auf dem Beifahrersitz kippte die Rücklehne des Fahrersitzes nach hinten. Ich eilte wieder zu Marc hinüber. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis der Patient die Beatmungsmaske auf Mund und Nase hatte und darüber mit Sauerstoff beatmet werden konnte. Dabei dauerte das wahrscheinlich nur etwa 30 Sekunden.
„Die Beine sind frei, Doc!”, sagte Marc, nachdem er sich dessen vergewissert hatte. „Drehen wir ihn über die Seite nach draußen und versorgen wir ihn dort weiter?”
„Nein, gib mir bitte das Laryngoskop und einen 8er Tubus.”, antwortete Dr. Boretzer.
Marc reichte dem Notarzt beides an, während ich mir Gänsegurgel, Filter, Blockerspritze und Thomas-Holder aus dem Rucksack zusammensuchte.
Ich nahm mir vor, beim Intubieren zu helfen. Dr. Boretzer wechselte mehrfach die Position, saß, kniete, aber er fand keinen ausreichenden Platz, einen guten Einblick in den Rachen des Patienten zu finden. Endlich ging es irgendwie, ich führte das BURP-Manöver aus und der Arzt schob den Tubus vor, ich blockte.
Inzwischen nutzte das Rettungsteam der Feuerwehr die Zeit und machte sich direkt neben mir mit dem hydraulischen Schneidgerät an der B-Säule zu schaffen, um sie samt der Hintertür zu entfernen und eine große Seitenöffnung zu schaffen.
Das Blubbern im Magen des Patienten beim Drücken des Beatmungsbeutels war trotz des Knackens des Blechs zu vernehmen, vielleicht gerade deshalb, weil es für uns alle so unerfreulich war. Ich entblockte auf ein Zeichen von Dr. Boretzer und er zog den Tubus heraus. Dann nahm ich mir die Maske und begann, den Patienten damit zu beatmen.
Die linke B-Säule war nun entfernt und die Feuerwehrretter kamen von beiden Seiten an den Patienten heran, um ihn aus dem Fahrzeug zu heben.
„Langsam”, sagte Dr. Boretzer, „ich intubiere erst.”
Er ließ die Rückenlehne wieder etwas nach oben stellen, bekam dadurch etwas mehr Platz am Kopf des Patienten. Da ich zum Assistieren bereit stand, nutzte Marc die Zeit, um manuell den Blutdruck des Patienten zu messen. Dr. Boretzer nahm das Laryngoskop und schob den Tubus nach einigen Einstellversuchen ein. Das akustische Signal am LP 15 ließ meinen Blick auf die Sättigungsanzeige wandern. Die Sättigung war während des Intubationsversuchs auf 80 % gefallen. Der Beatmungsbeutel ließ den Magen wieder vernehmbar blubbern. Die Sättigung fiel auf 76 %, während wir den in der Speiseröhre liegenden Tubus wieder entfernten.
Marc hatte mehrmals die Blutdruckmanschette aufgepumpt und die Luft wieder abgelassen, als müsste er das Ergebnis der Messung überprüfen. Als Dr. Boretzer dem Patienten die Maske wieder aufsetzte und die Sauerstoffsättigung wieder anstieg, hatte Marc eine Larynxmaske zur Hand genommen und sagte „Doc, der Radialispuls ist kaum tastbar und der Druck dürfte daher irgendwo bei 80 mmHg sein.”
Unser Patient war also in einem kritischen Schockzustand. Ich kann gar nicht sagen, auf wessen Initiative hin die Feuerwehrleute nach einem kurzen Moment zupackten und den Patienten auf die Trage hinüber hoben, aber ich hatte in dem Moment den Eindruck, Dr. Boretzer war davon etwas überrumpelt.

Die Feuerwehr rettet den Patienten

Rückblickend war es wahrscheinlich die perfekte Zusammenarbeit der Mannschaft der Berufsfeuerwehr, die dem Patienten zu diesem Zeitpunkt das Leben rettete. Sie hatten ausgesprochen kompetent gehandelt und auf der Liege eine Beckenschlinge schon auf der richtigen Höhe platziert. Auch eine Vakuumschiene für den gebrochenen linken Unterschenkel war vorbereitet worden, das Thoraxkompressionsgerät lag bereit.
So konnte unser Patient auf der Liege nun parallel versorgt werden, Marc schob die Larynxmaske ein, Dr. Boretzer beatmete mit dem Beatmungsbeutel und kontrollierte die Vitalparameter auf dem LP 15, ein Bodycheck wurde gemacht, das dabei entdeckte instabile Becken mit der Schlinge stabilisiert und das offene linke Sprunggelenk reponiert und mit der Vakuumschiene ruhiggestellt.
Über den vorhandenen Venenzugang drückte ein Feuerwehrkollege eine Ringerlösung in den Kreislauf des Patienten, ein anderer half mir, am anderen Arm einen weiteren großlumigen Zugang zu legen.
Der Blutdruck unseres Patienten stieg wieder in den normalen Bereich, ebenso die Sauerstoffsättigung im Blut. Jemand aus dem Team hatte einen Schockraum angefragt und vermeldete, dass wir dort erwartet wurden.
Wir schoben die Trage an den RTW und ich wechselte mit einem Teil der Mannschaft ins Innere, um das LP 15, die Sauerstoffflasche und den Beatmungsbeutel zu übernehmen. Auch Dr. Boretzer stieg ein. „Ich möchte noch intubieren, bevor wir losfahren.“, sagte er zu Marc, der ihm folgte. Ich konnte daraufhin einige Mikroexpressionen zwischen Entsetzen und Genervtheit in Marcs Gesicht beobachten, bis er sich endlich mit einem leisen Seufzer für einen Ausdruck der Resignation entschied. Er bereitete kommentarlos den nächsten Intubationsversuch vor.
Das LP 15 wurde in seine Halterung an der Wand links vom Patienten gesteckt und ich ging die Werte durch. Die Blutdruckmanschette hatte sich gerade aufgepumpt. Die Sauerstoffsättigung wurde mit 99 % angezeigt, die Herzfrequenz war bei 115 Schlägen pro Minute. Die Blutdruckmessung ergab 90 zu 60 mmHg. Unser Patient atmete noch immer nicht eigenständig, wir mussten ihm den Sauerstoff weiter über den Beatmungsbeutel in die Lungen drücken.
Marc hielt einen neuen Tubus bereit, die Blockerspritze und den Lifesaver in der anderen Hand. Dr. Boretzer machte das Stethoskop bereit, nahm das Laryngoskop.
„Zieh jetzt bitte vorsichtig das Ding raus.”, wies er mich an. Ich hatte überhaupt kein gutes Gefühl dabei, dem beatmeten Patienten jetzt wieder die Larynxmaske zu entfernen. Ich zögerte wohl einen Moment zu lange, denn Dr. Boretzer zog jetzt plötzlich die Maske selbst heraus.
„Wir intubieren selbstverständlich,” sagte er mit Nachdruck, „euch ist doch hoffentlich klar, dass so ein Patient hier intubiert werden muss. Man kann mit einem Polytrauma sowieso nicht ohne Beatmung in einen Schockraum fahren.”
Erst im zweiten Versuch im RTW gelang es Dr. Boretzer, unseren Patienten zu intubieren und wir setzten uns endlich Richtung Schockraum in Bewegung.
Dr. Boretzers Aussage wunderte mich. Hätten wir auch intubieren müssen, wenn unser Patient wach geblieben wäre und selbst weiter atmen hätte können? Diese Frage ging mir nicht mehr aus dem Kopf, auch mehrere Tage später beschäftigte sie mich immer noch.

Müssen schwer Verletzte, aber wache und spontan atmende Patienten immer am Unfallort schon intubiert werden?

Genau dieser Frage ging man in einer österreichischen Studie nach.

Von 946 untersuchten schwer verletzten Patienten benötigten 368 im weiteren Verlauf eine Intubation und Beatmung. 258 dieser Patienten erhielten die Intubation am Unfallort oder vor dem Erreichen des Krankenhauses. 110 wurden erst im Krankenhaus intubiert und beatmet. Für die Studie interessant waren hier aber nur diejenigen Patienten, die diese Beatmung aufgrund eines akut lebensbedrohlichen Zustands bekommen sollten.

Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma (ISS Kopf >/= 4) wurden ausgeschlossen.

Letztendlich untersuchte man insgesamt 28 Patienten mit einem GCS von ≥ 12 und einem systolischen Blutdruck von ≤ 90 mmHg am Unfallort, die im Rahmen einer vorklinischen oder notfallmedizinischen Behandlung intubiert werden mussten. Alle diese Patienten wurden während der Studiendauer in das Salzburger Trauma-Zentrum eingewiesen und überlebten, wenn vor dem Krankenhaus eine Notfallanästhesie eingeleitet (N = 14) oder auf die Notaufnahme verschoben wurde (N = 14).

Die Studie zeigte, dass es keinen statistischen Unterschied in der Mortalitätsrate von spontan atmenden Traumapatienten gab, die vor Ort intubiert wurden, im Vergleich zu Patienten, die unmittelbar nach der Krankenhauseinweisung intubiert wurden.

Was aus unserem Patienten wurde

Kurz gesagt, ging es unserem Patienten nach einem halben Jahr wieder so gut, als wäre nie etwas gewesen. Die Schockraumversorgung und die Notfalldiagnostik verliefen mustergültig. Seine inneren Blutungen aus einem Leberriss, der beim Aufprall entstanden war und dem Beckenbruch, wurden in einer Notoperation versorgt, während sein Blutverlust durch Blutkonserven ausgeglichen wurde. Die offene Luxationsfraktur am linken Sprunggelenk wurde erstmal mit einem äußeren Fixateur in der richtigen Stellung festgehalten, später dann der Knochen mit Schrauben und Platte endgültig versorgt.
Nach abgeschlossener physiotherapeutischer Behandlung war mit der wieder kompletten, schmerzfreien Funktion des Sprunggelenks auch die letzte Verletzung ausgeheilt.

Vielleicht blieb mir dieser Einsatz auch deshalb so gut im Gedächtnis, weil das Happy End an so vielen Stellen schlimm gefährdet war.
Dr. Boretzer stand für eine Einsatznachbesprechung leider nicht zur Verfügung, die Gründe dafür wurden mir nicht genannt.
Marc teilte seine Meinung zum Ablauf des Einsatzes und der einzelnen Maßnahmen gerne mit mir. Er war geduldig, als ich ihm Löcher in den Bauch fragte. Ich bemerkte natürlich, wie zurückhaltend er wurde, wenn es mir um seine Meinung über die Entscheidungen Dr. Boretzers anging.

Was ich aus diesem Einsatz lernte

Inzwischen fahre ich nicht mehr als Praktikant sondern bereits einige Monate selber als Notarzt auf dem NEF. Dennoch denke ich immer noch oft an diesen besonderen Einsatz und beurteile ihn für mich mit meinem heutigen Wissen folgendermaßen:

  • Es wäre eine schnelle Rettung, das heißt eine Befreiung innerhalb von 20-30 Minuten angezeigt gewesen, da eine Extremitätenverletzung vorhanden und eine schwere Stammverletzung nicht ausgeschlossen war.
  • Dr. Boretzer hätte das Gespräch mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr zur Erörterung der Dringlichkeit und Art der technischen Rettung aktiv suchen müssen.
  • Eine Intubation wäre möglicherweise vermeidbar gewesen. Denn ich war mir schon während des Einsatzes schon recht sicher, dass das Fentanyl die anfängliche Atemdepression verursacht hatte und nicht der Blutungsschock.
    Bei eingeklemmten Patienten muss die Schmerztherapie besonders vorsichtig erfolgen.
  • Zur Atemwegssicherung wäre eine supraglottische Atemwegshilfe wahrscheinlich ausreichend und besser sowie insbesondere schneller anzuwenden gewesen.
  • Bei einem Verkehrsunfall mit Einklemmung des Patienten ist die Versorgung immer eine Zusammenarbeit zwischen medizinischer Versorgung und technischer Befreiung, was eine Koordination und Kooperation erzwingt. Dr. Boretzer arbeitete an der medizinischen Versorgung, während er die technische Rettung ignorierte und als Störfaktor wahrnahm.
  • Dr. Boretzer hatte keine adäquate Sicherheitskleidung an.

Ein systematischer Ablauf ist sinnvoll, um Chaos zu vermeiden und Prioritäten einzuhalten

  • Eigensicherung
  • Sichtung und Triagierung aller Verletzten nach Anzahl und Verletzungsschwere, dann Rückmeldung an die Leitstelle
  • Zugang zum Patienten zur Ersteinschätzung dessen Zustands.
  • Versorgung des Patienten ermöglichen: Irgendeine Tür des Unfallfahrzeugs sollte schnell geöffnet werden.
  • ABDCE-Schema, orientierender Polytraumacheck
  • Sofortversorgung akut lebensbedrohlicher Zustände (Nadeldekompression, Thoraxdrainage, Atemhilfe)
  • erweiterte Maßnahmen: Patientenstabilisierung, Schockprophylaxe, während eine
  • Große Öffnung (Dachentfernung, große Seitenöffnung, Beinraumöffnung) geschaffen wird.
  • Befreiung des Patienten, Transport, Schockraumversorgung, Notfalldiagnostik usw.

Quelle

Schwaiger, P., Schöchl, H., Oberladstätter, D. et al. Postponing intubation in spontaneously breathing major trauma patients upon emergency room admission does not impair outcome. Scand J Trauma Resusc Emerg Med 27, 80 (2019) doi:10.1186/s13049-019-0656-9