Beruf oder Berufung?
Von jedem Beruf hat man mehr oder weniger romantisierende Vorstellungen. Und jeder junge Mensch in unserer Gesellschaft steht irgendwann vor der Entscheidung, welchen Beruf er ergreifen will. Eigene berufliche Erfahrungen können zu diesem Zeitpunkt in die Entscheidung natürlich noch nicht oder kaum einfließen. Andererseits beherrschen die Klischees und Stereotypen aus Serien und Anekdoten vor allem die Vorstellungen junger Menschen der Gesellschaft.
Einige Schülerinnen und Schüler wünschen sich, Chirurg zu werden und operieren zu können. Ist daran etwas Besonderes? Ist das ein Beruf, den sich jeder einfach aussuchen kann? Wann sollte man sich diesen Beruf zum Ziel setzen und wann nicht?
Warum stellt sich die Frage überhaupt, wieso jemand Chirurg werden will? Natürlich genauso, ob jemand eine gute Chirurgin werden will. Sie ist immer auch gemeint, wenn zugunsten der Lesbarkeit im Folgenden nur die männliche Form verwendet wird.
Wie wird man Facharzt für Chirurgie?
Alle Fachärzte müssen natürlich erst einmal Ärzte werden und Medizin studieren.
Wer dann Facharzt für Chirurgie werden will, nimmt einen langjährigen und mühseligen Weg auf sich.
Es werden viele Jahre lang Wissen und Fähigkeiten erarbeitet. Umfassende Weiterbildungen und Zusatzqualifikationen sind notwendig, damit am Ende eine chirurgische Spezialisierung und die Facharztqualifikation stehen kann.
Unterscheidet Chirurgen etwas von anderen Fachärzten?
Unterscheidet sich der Chirurg von anderen Fachärzten? Besteht ein charakterlicher Unterschied zu anderen Fachärzten, die die gleiche Zeit und Mühe für die Weiterbildung auf sich genommen haben? Sind Fachärzte charakterlich austauschbar untereinander, wenn man sich spezialisiertes Wissen und Fähigkeiten wegdenkt?
Kardiologe gegen Gynäkologe, Pädiater gegen Augenarzt, Radiologe gegen Urologe und Pathologe gegen Chirurg?
Leidenschaft, Hingabe und die Liebe zu seinem Beruf sind sicherlich allen guten Fachärzten gemein, das ist es nicht.
Doch gibt es etwas, was durchschnittlich allen Chirurgen gemeinsam ist, sie aber von den anderen Fachärzten unterscheidet? Etwas vielleicht, was über ein plattes Klischee hinausgeht? Etwas, das, wenn es fehlt, dazu führt, dass ein Student oder Arzt den Weg bis zum Facharzt für Chirurgie eher nicht zu Ende geht?
Gibt es Eigenschaften, die mit dem Beruf des Chirurgen eng verbunden sind?
Ganz sicher. Es sind bestimmte Eigenschaften zur Ausübung der Chirurgie notwendig.
Medizinstudenten, die diese Eigenschaften mitbringen, finden sehr einfach hin zur Chirurgie.
Und andererseits weckt die Chirurgie in anderen Studenten erst die Begeisterung und lässt die chirurgischen Eigenschaften entstehen und wachsen.
Im nächsten Absatz werden die chirurgischen Eigenschaften genannt. Man erkennt sofort, dass sich sehr wohl die Frage stellt, wer eigentlich diese Voraussetzungen erfüllt und Chirurg werden kann. Und man sieht, dass es sich deshalb dabei vielmehr um eine Berufung handelt, als um einen Beruf.
Charakterliche und konstitutionelle Voraussetzungen
Die hohe Qualität der folgenden Eigenschaften machen zusammen einen guten Chirurgen aus.
Handlungsansatz
Ein Chirurg greift zum richtigen Zeitpunkt ein
Ein Chirurg beurteilt Krankheitszustände stets auf die Notwendigkeit hin, ob langfristig, mittelfristig oder kurzfristig chirurgisch eingegriffen werden sollte. Es ist für ihn wichtig, zu erkennen, ob und wann gehandelt werden soll. Niemals ist ein Arzt wertvoller, als wenn er zum einen erkennen kann, dass rasch und mutig operiert werden muss und er dann auch das Wissen und Können hat, es zu tun und zum anderen, dass er auch feststellen kann, dass sein Eingreifen nicht erforderlich ist.
Ein Chirurg führt das Ergebnis selbst unmittelbar herbei
Kein anderer Arzt arbeitet so unmittelbar am Patienten und an der Veränderung eines krankhaften Zustands, wie ein Chirurg. Er verwendet Instrumente mit seinen Händen, am und im Körper des Patienten, um direkt und sofort einen gesünderen Zustand herzustellen.
Oft kann der Chirurg und der Patient sofort ein Ergebnis sehen oder fühlen.
Ein Chirurg arbeitet am Körper eines Menschen
Auf Laien und Außenstehende wirken größere operative Eingriffe teilweise sehr furchteinflößend. Es ist eben schon eine sehr ungewöhnliche Situation, mit den Händen im Bauch eines Mitmenschen zu agieren, Knochen durchzusägen, Gefäße abzuklemmen und Darm zusammenzuklammern.
Es mag auch für manche Ärzte durchaus eine Hürde oder Herausforderung darstellen, diese Tätigkeiten auszuführen. Sicherlich kann man sich aber auch an zunächst Unvorstellbares so gut gewöhnen, dass es sich irgendwann ganz normal anfühlt.
Gegebenheiten
Der Chirurg trägt die Verantwortung
Ein Chirurg muss für seine oft wörtlich einschneidenden Entscheidungen die Verantwortung tragen. Seiner Empfehlung und seiner Operationsweise vertraut der Patient seine Gesundheit an. Für die Folgen des Eingriffs, seien sie wie erwartet positiv oder unerwartet negativ, ist der Chirurg direkt verantwortlich. Selten hat der Rat eines Arztes so weitreichende Konsequenzen. Selten auch ist ein Arzt sonst so unmittelbar die Ursache für eine Veränderung der Gesundheit eines Menschen, wie in der Chirurgie.
Aus diesem Grund muss ein Chirurg die Ergebnisse seiner Entscheidungen und Handlungen immer kritisch hinterfragen. Auch ist vor diesem Hintergrund der Vergleich und die Diskussion mit anderen Kollegen wichtig. Das macht die besondere Verantwortung eines Chirurgen aus.
Ein Chirurg muss spontan und flexibel sein
Chirurgische Erkrankungen treten oft plötzlich und heftig auf. Dadurch sind die Fähigkeiten eines Chirurgen oft nötig, ohne dass eine zeitliche Planung möglich ist. Die spontane Einsatzfähigkeit bei einem chirurgischen Notfall ist eine grundlegende Voraussetzung für einen Chirurgen. Sowohl körperliche als auch mentale Flexibilität ist dabei wichtig.
Das soziale Umfeld muss sich leider auf die Flexibilität und Spontanität eines Chirurgen einstellen.
Auch während Operationen treten manchmal nicht planbare Situationen auf. Das liegt an der Verschiedenheit der Menschen, ihrer Vorgeschichte und situativen Besonderheiten. Gerade dann ist speziell eine gedankliche und handwerkliche Flexibilität gefordert, die zu einem gleich guten Ergebnis führt. Die Fähigkeit, eine völlig neue, vielleicht zufällige Situation in einer Operation zurück in eine vertraute zu führen, macht ganz besonders einen guten Chirurgen aus.
Körperliche Fähigkeiten
Ein Chirurg muss Ausdauer haben
Operationen können viele Stunden dauern, dabei darf dem Chirurgen weder als Operateur, noch als Assistenten die Kraft, Fingerfertigkeit oder Konzentration schwinden.
Beispielsweise über Stunden Stiche millimetergenau zu setzen, eine Kamera ruhig und Wundhaken statisch zu halten, sind Fähigkeiten, die einen guten Chirurgen ausmachen.
Längere Pausen zu machen, den OP-Tisch zu verlassen oder gar die Arbeit zu beenden, wenn man müde wird, ist für einen Operateur eben im Regelfall nicht möglich.
Nach einem anstrengenden Arbeitstag sind es oft auch die Einsätze bei Notfällen in der Dienstzeit – nicht selten nachts – die einen Chirurgen nah an die Grenzen seiner körperlichen Belastbarkeit bringen.
Ein Chirurg muss geschickt sein.
Kein anderer Arzt ist so sehr auf die Geschicklichkeit seiner Hände angewiesen, wie ein Chirurg. Eine gefühlvolle und geübte Handhabung der OP-Instrumente ist eine wesentliche Voraussetzung für eine schonende und saubere OP-Technik. Kraft, Technik und Präzision werden bei jedem Operationsschritt mit anderer Gewichtung angewandt und müssen daher gut koordiniert werden.
Natürlich verbessert sich die operative Geschicklichkeit mit zunehmender Erfahrung und Übung, aber ein gutes Maß an räumlicher Vorstellungskraft, manueller Koordination, Feinmotorik und Gespür für das körperliche Gewebe sollte ein angehender Chirurg bereits mitbringen.
Ein Chirurg braucht Körperbeherrschung
Da Chirurgen Menschen und keine Maschinen sind, unterliegen Ausdauer und Geschicklichkeit äußeren Einflüssen, die ein guter Chirurg abschirmen muss.
Die eigene Müdigkeit, Hunger, laute Unterhaltungen, Ärger mit Kollegen, Missverständnisse im Team, Schwierigkeiten im OP-Ablauf, das Jucken an der Nase sowie andere innere und äußere Störfaktoren und Widrigkeiten dürfen nicht dazu führen, dass beim Operateur die Konzentration auf die OP und deren professionelle Durchführung leidet.
Mentale Fähigkeiten
Ein Chirurg muss sich lange konzentrieren können
Stetig konzentriert arbeiten zu können, ist eine wichtige Fähigkeit eines guten Chirurgen. Schwierige Operationsschritte, die besonders präzise und behutsam ausgeführt werden müssen, erfordern ganz selbstverständlich eine hohe Konzentration. Aber auch vermeintlich einfache Operationsschritte können bei verschiedenen Patienten von der Norm abweichen und um das frühzeitig zu erkennen, ist die volle Aufmerksamkeit des Operateurs notwendig. Jeder erfahrene Operateur hat erlebt, dass scheinbare Kleinigkeiten sich im Verlaufe einer OP zu relevanten Problemen entwickelt haben.
Die Konzentration muss schon lange vor dem Hautschnitt präsent sein. Es geht hier auch um die Vergegenwärtigung des Patienten und des zu operierenden Körperteils. Schwere Fehler können bei Unkonzentriertheit auftreten, wenn beispielsweise eine Medikamentengabe vor oder während der Operation vergessen wird.
Ein hohes Maß an Konzentration aufbringen zu können, ist genauso wichtig, wie diese Konzentration über viele Stunden halten zu können. Das ist gar nicht einfach, aber eine wichtige Voraussetzung für einen guten Chirurgen.
Ein Chirurg muss demütig sein und seine Grenzen kennen
Operative Fähigkeiten angemessen zu entwickeln, erfordert viel Zeit und Übung. Je nach Spezialisierung und Ausbildungsstand kann eine operative Notwendigkeit die operative Fähigkeit und Erfahrung eines Operateurs übersteigen. Wenn das passiert, gefährdet es die Gesundheit des Patienten.
Jeder Chirurg muss sich seiner operativen Fähigkeiten genau bewusst sein, insbesondere aber seiner Grenzen.
Gerade bei ausgeprägtem Selbstbewusstsein muss ein guter Chirurg an dieser Stelle die angemessene Demut und den Respekt vor dem erkrankten Patienten aufbringen, wenn er merkt, dass ein Eingriff seine Fähigkeiten übersteigt. Er soll sich dann angemessene Hilfe organisieren und nicht aus falschem Stolz und Hochmut Eingriffe wagen, die seine Möglichkeiten überschreiten.
Ein Chirurg muss mit nervlicher Anspannung zurechtkommen
In bestimmten Konstellationen tritt bei Operationen ein Zeitdruck auf. Es geht in diesen Fällen zum Beispiel darum, schnell eine Blutung zu stoppen oder rasch die Durchblutung von Körperteilen wiederherzustellen. Hier geht es unmittelbar um die Gesundheit oder gar das Leben eines Patienten.
Weniger dramatisch ist der organisatorische oder zwischenmenschliche Druck, der auf einem Operateur lasten kann.
Ein guter Chirurg darf sich beim Operieren nicht aus der Ruhe und Konzentration bringen lassen. Sein Gemüt soll in einem Zustand bleiben, der ihm eine unbeeinträchtigte, professionelle Durchführung der Operation erlaubt.
Soziale Fähigkeiten
Chirurgie ist Teamwork
Jede Operation in einem Operationssaal erfordert die Zusammenarbeit vieler Fachleute. Operateur, chirurgische Assistenz, Instrumenteur, Springer, Narkosearzt (Anästhesist) und Anästhesiepflegekräfte sind die Spezialisten, die bei einer Operation für einen Patienten zusammenkommen. Dazu kommt das Personal, das bei der OP-Vorbereitung und bei der Betreuung nach der Operation aktiv ist.
Hieraus wird schon deutlich, dass weder der Operateur, noch sonst eine Einzelperson innerhalb dieser ineinandergreifenden Tätigkeitsfelder für sich alleine beanspruchen kann, eine Operation durchgeführt zu haben.
Dennoch nimmt der Chirurg als Operateur eine Führungsposition innerhalb des Operationsteams ein. Er soll motivieren, koordinieren und führen und so die optimale Leistung des anwesenden Arbeitsteams ermöglichen.
Für eine gut organisierte Operation und einen professionellen Ablauf braucht ein guter Chirurg eine entsprechende Kommunikationsfähigkeit. Auch die Kenntnis und das Interesse an den Abläufen in den beteiligten Tätigkeitsfeldern ist wichtig. Manchmal müssen Informationen zum richtigen Zeitpunkt mitgeteilt werden, daher muss dieser erkannt werden.
Diese inhaltliche und zeitliche Abstimmung zwischen den beteiligten Personen an einer Operation funktioniert mit zunehmender gemeinsamer Erfahrung harmonischer und trägt wesentlich zu einer erfolgreichen Operation bei.
Ein Chirurg strahlt Vertrauen aus
Da der Chirurg als Operateur die Verantwortung für die Behandlung des Patienten trägt, ist das Vertrauensverhältnis zwischen Chirurg und Patient sehr wichtig, oft wichtiger als in anderen Arzt-Patienten-Beziehungen.
Daher sollte ein Chirurg dem Patienten die Möglichkeit geben, leicht Vertrauen aufzubauen.
Transparenz in Empfehlungsprozessen, eine verständliche Sprache und eine offene Kommunikation machen das leichter. Eine Fokussierung auf die Sorgen und Bedürfnisse des Patienten fördert ebenfalls das Vertrauen.
Ist McDreamy nun wie ein echter Chirurg?
Das Klischee, wie ein Chirurg beschaffen sein muss, das man vielleicht aus Fernsehserien gewinnen kann, greift meist nur einzelne Aspekte des Berufs des Chirurgen heraus und überzeichnet sie. Dies kann logischerweise nur zu einer erheblichen Verzerrung der Realität führen.
Anhand der obigen Erläuterungen wird ersichtlich, wie wichtig alle diese Eigenschaften zusammen für einen Chirurgen sind. Dabei ist diese Liste sicherlich noch gar nicht vollständig. Diese Eigenschaften und Fertigkeiten müssen teilweise über viele Jahre trainiert werden, was die lange Weiterbildungszeit und die hohen Anforderungen für den Facharzt für Chirurgie erklärt.
Und die Liste macht auch klar, warum Frauen und Männer absolut gleichberechtigt in der Chirurgie tätig sind, denn auch in diesem Berufsbereich sind Schwächen und Stärken offensichtlich nicht geschlechtsabhängig.